Bettelmafia: Unterschied zwischen den Versionen

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Version vom 9. Dezember 2020, 22:37 Uhr

Als Bettelmafia (auch: Bettlermafia) wird vielfach undifferenziert organisiertes Betteln verstanden. Historische und sozialempirische unabhängige Untersuchungen haben mehrfach gezeigt, dass es in Österreich keine Bettelmafia gibt.

Name

Als Mafia wurde ursprünglich ein streng hierarchischer Geheimbund bezeichnet, der durch Erpressung, Gewalt und politische Einflussnahme Macht erlangte und auszubauen versuchte. Eine Mafia unterscheidet sich von anderen Formen der organisierten Kriminalität und kriminellen Vereinigungen durch:

  • einen engen, streng hierarchisch gegliederten Gruppenverband,
  • die einem eigenen Codex folgen und den jedes Mitglied genauestens einzuhalten hat,
  • die patriarchale Organisation (Frauen sind keine Mitglieder und können es auch nicht werden),

Heutzutage ist Mafia ein Synonym für organisierte Kriminalität, wobei Mafia immer noch gleichgesetzt wird mit einer gewalttätigen und verschworenen Geheimgesellschaften und kriminellen Klans. Während sich diese Form der Mafia mit der finanziell sehr lukrativen Prostitution, dem Menschenhandel, Drogenhandel, Erpressung ( auch Schutzgelderpressung), illegalem Glücksspiel und Subventionsbetrug beschäftigt, sei die sogenannte Bettelmafia lediglich im Bereich der organisierten Bettelei zu finden.

Lohnendes Geschäftsfeld ?

Während sich die richtige "Mafia" z. B. mit den Geschäftsfeldern: Prostitution, Menschenhandel, Drogenhandel, Erpressung, illegalem Glücksspiel, Subventionsbetrug, der Geldwäsche in etablierten Unternehmensbereichen wie z. B. Restaurants, Bauwirtschaft, Abfallentsorgung, Bank- und Finanzwesen[1], oder Reinigungsunternehmen beschäftigt, bei denen erhebliche Gewinne erzielt werden können, soll sich die Bettelmafia mit den Einkünften aus der Bettelei beschäftigen.

Werden die möglichen Einkünfte aus Bettelei betrachtet, so ergibt sich, dass ein solches Geschäftsfeld in Form einer organisierten Einheit kaum gewinnbringend geführt werden kann. Beispiel: Einnahmen am Tag von durchschnittlich 50 Euro.[2] Davon werden für das Essen der bettelnden Person etwa 15 Euro gebraucht, für sonstige non-food-Artikel etwa 5 Euro, für Telefon, Fahrtkosten etc. nochmals etwa 5 Euro und für unvorhergesehenes (z. B. allfällige Strafen) 10 Euro. Dabei wird davon ausgegangen, dass die bettelnde Person keine Kosten für Unterkunft zu bezahlen hat, sondern ganzjährig auf der Straße lebt und gesund ist, also keine Medikamente und keinen Arzt braucht. Bei einem Einkommen von 50 Euro kann somit bei optimalen Voraussetzungen am Tag ein Gewinn von etwa 15 Euro erwirtschaftet werden (= monatlich Euro 450).[3][4][5] Von diesen 15 Euro sind sodann Kleidung, Schuhe, Fahrt in die Heimat, Unterstützung von Verwandten etc. zu bezahlen. Unvorhersehbarkeiten führen in der Praxis dazu, dass diese Person sich Verschulden muss und unter Umständen bei einem Zinshai um hohe Zinsen Geld ausleihen muss, weil das Einkommen aus Betteln nicht ausreicht und die bettelnde Person dadurch in einen weiteren Kreis der Armutsspirale gelangt. Strafen in Österreich für Bettelei sind exorbitant hoch (in Vorarlberg z. B. im Durchschnitt rund 170 Euro pro Strafe[6]) und führen in der Praxis vielfach zu Verschuldung der betroffenen Person. Weltweit bekannt wurde der Fall einer Bettlerin in Vorarlberg, die vor allem in der Stadt Bludenz bestraft wurde und innert weniger Monate 38.000 Euro an Strafe bezahlen sollte. Dabei wurde diese bettelnde Person teilweise innert weniger Minuten mehrfach angezeigt.[7][8]

Teilweise sind Behauptungen von Personen in öffentlichen Positionen auch offensichtlich falsch und als solche auch leicht erkennbar: Würde tatsächlich, wie z. B. vom Kommandanten der Stadtpolizei in Bregenz 2015 behauptet, ein Bettler im Laufe eines Monats rund 3000 Euro, eine Frau mit einem Kind im Arm (…) etwa auf 4500 Euro im Monat, das steuer- und abgabenfrei erwirtschaften, so würden wohl viele Menschen sofort ihre berufliche Tätigkeit aufgeben und nur noch betteln.[9][10]

Keine der mit diesen Personen in der Praxis tätigen Sozialeinrichtungen in Österreich, wie z. B. Caritas oder Volkshilfe, Plattform Armutsmigration, Bettelobby etc. konnten jemals irgendwelche Anzeichen für eine tatsächlich bestehende organisierte Kriminalität in Österreich im Hinblick auf das Betteln bei den bettelnden Personen feststellen. Was feststellbar ist, dass es aufgrund der Not es zu engen Kooperationen und einem starken Zusammenhalt zwischen den Armutsmigranten kommt. Diese bilden auch Reisegemeinschaften und teilen sich die Kosten für den Aufenthalt und andere Ausgaben.[11][12][13][4][14][15]

Politik und Medien verbreiten seit Jahren Vorstellungen der Existenz sogenannter „Bettlerbanden“, „organisierter Bettelei“ oder einer „Bettelmafia“, so als wäre über Betteln viel Geld zu holen. Solchen Mythen ist mit Bildungs- und Kulturarbeit schwer beizukommen, da sie ihre Glaubwürdigkeit auch aufgrund der Positionen der SprecherInnen (z.B. einer Amtsperson) erhalten. Außerdem passen sie oft ins eigene Bild, in eigene Alltagsbeobachtungen: Wenn z.B. bettelnde Menschen gemeinsam anreisen oder aus einem Auto oder Bus aussteigen, Fahrgemeinschaften bilden, sich gemeinsam einen Schlafplatz in der Stadt suchen, das wenige erbettelte Geld einsammeln, um es in Sicherheit zu bringen, oder sich gegenseitig mit einer Wurstsemmel versorgen, sieht der vorgeformte Blick, was das vorherrschende Deutungsmuster anbietet: „organisierte Bettelei“. Wer sich mit den Lebensrealitäten und Sichtweisen der betroffenen Minderheit auseinandersetzt oder sich wissenschaftlich informiert, kann diese Alltagsbeobachtungen anders – als Form der Selbsthilfe – einordnen: Menschen in extremen Notlagen machen das Beste aus ihrer Situation, organisieren sich selbst, reisen in der Regel mit Verwandten und Nachbarn temporär in andere Länder, um ein wenig Geld für die Existenzsicherung zumeist von Familienangehörigen zu erbetteln.[16]

Täter – Opfer – Umkehr

Zur Täter-Opfer-Umkehr kam und kommt es mehrfach im Bereich der Gesetzgebung und Vollziehung in Österreich, in dem Verordnungen und Gesetze gegen eine angebliche Bettelmafia bzw. organisiertes/gewerbsmäßiges Betteln geschaffen und streng vollzogen werden, während gleichzeitig offenkundig ist, dass dann, wenn die bettelnden Personen tatsächlich von kriminellen Hintermännern ausgebeutete Personen sind, diese bettelnden Personen ja die Opfer sind und keine Täter und daher den Schutz des Gesetzes benötigen würden und nicht strengere Strafen, die sie primär treffen. Doch wurden in der Vergangenheit in fast allen Bundesländern in Österreich strenge Strafen gegen organisierte bzw. gewerbsmäßige Bettelei eingeführt, bei denen primär die bettelnden Personen bestraft werden, nicht aber die angeblich vorhandenen Hintermänner.

Literatur

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Organisation: Mafia ist inzwischen „größte Bank Italiens“. Reuters, 11. Januar 2012.
  2. Da jeder Tag verschieden abläuft und nicht generell an jedem Tag das Optimum erreicht werden kann, wurde ein Mitteleinkommen am Tag von 50 Euro gewählt. An manchen Tagen wird mehr, an anderen weniger erreicht. An schlechten Standorten erheblich weniger pro Tag
  3. "Betteln ja, aber bitte nicht gewerbsmäßig", Webseite: fm4v3.orf.at vom 25. März 2010.
  4. 4,0 4,1 Betteln: Verbote und Strafen zeigen kaum Wirkung, Webseite: profil.at vom 18. Mai 2015.
  5. Studie über Bettler in Vorarlberg vorgestellt, Webseite: orf.at vom 25. Juli 2015.
  6. Zum Vergleich: das Überfahren eines roten Ampellichts oder eine Geschwindigkeitsüberschreitung bis 40 km/h im Ortsgebiet kostet in Österreich im Durchschnitt nur 70 Euro, Strafenkatalog Österreich, Webseite: ÖAMTC.at
  7. Rumänische Bettlerin soll 38.000 Euro Strafe bezahlen, Webseite: Kleine Zeitung vom 22. August 2016.
  8. 38.000 Euro Strafe für Bettlerin, Webseite: vol.at vom 22. August 2016.
  9. Behauptung in: Vorarlberger Nachrichten vom 26. November 2015.
  10. Christian Diabl: Wie die Kronen Zeitung den Mythos der Bettelmafia schürt, Webseite: kobuk.at vom 6. Februar 2014.
  11. Werden Menschen zum Betteln gezwungen?, Webseite: Katholische Kirche Vorarlberg.
  12. Wer fürchtet sich vor der Bettelmafia?, Webseite: orf.at vom 11. März 2010.
  13. Die Bettelmafia, Webseite: fm4.orf.at vom 28. November 2018.
  14. Betteln als letzte Hoffnung in der Armut, Webseite: derStandard.at vom 9. Dezember 2015.
  15. Von der Bettelmafia und anderen Mythen, derStandard.at vom 27. März 2008.
  16. Lisa Gensluckner: Bettelverbote und die Macht der sorglos ausgesprochenen Worte, Webseite: bettellobby.at vom 15. Juli 2016.