Wiener Schreibpädagogik

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Wiener Schreibpädagogik

Wiener Schreibpädagogik bezeichnet einen methodisch-didaktischen Ansatz des kreativen Schreibens, der im Lauf der 1980er und 1990er Jahre von Gerwalt Brandl und Christa (Christine) Brauner am polycollege Stöbergasse entwickelt wurde. Grundlagen der Methode sind die Verfahren der literarischen Moderne (Surrealismus, Oulipo, Wiener Gruppe).

Geschichte

"Schreibwerkstatt Stöbergasse"

Ausgehend von einem einzigen Kurs im Jahr 1981 baute Gerwalt Brandl am polycollege Stöbergasse ein Angebot von Schreibwerkstätten und Wochenendworkshops auf, das in seiner Vielfalt in Wien einzigartig war.[1]

Das Angebot umfasste wöchentlich stattfindende Schreibwerkstätten für AnfängerInnen („Schreibanimation“), Fortgeschrittene („Schreibwerkstatt“) und besonders Fortgeschrittene („Schreibgruppen“); Schreibwerkstätten für spezielle Zielgruppen (z.B. Kinder und Jugendliche, SeniorInnen, Frauen, Menschen mit nichtdeutscher Muttersprache); themenspezifische Schreibwerkstätten und Wochenendworkshops. 1996 installierte Anton Vagner eine Virtuelle Schreibwerkstatt. Als weiteres Online-Angebot gab es das „Blaue Forum“, das bis 2004 von Christa Brauner und Peter Bosch geleitet wurde.[2]

Die Lehrenden kamen aus unterschiedlichen Berufen, das entspricht dem interdisziplinären Ansatz der Wiener Schreibpädagogik. Sie waren AutorInnen, SchauspielerInnen, KünstlerInnen, WissenschaftlerInnen und schließlich auch AbsolventInnen des Lehrgangs Wiener Schreibpädagogik.[3]

Öffentlich in Erscheinung trat die „Schreibwerkstatt Stöbergasse“ bzw. die „Wiener Schreibpädagogik“ im Rahmen von Lesungen[4] und 2002 mit der Anthologie „vom wortfall vom sammeln"[5]. Hier hat man den Texten der Schreibwerkstatt-TeilnehmerInnen die Schreibanimationen vorangestellt, aus denen die Texte entstanden sind. Im Vorwort dieser Anthologie taucht erstmals der Begriff „Wiener Schreibpädagogik“ auf.

Der Lehrgang "Wiener Schreibpädagogik"[6]

1997 erstellten Gerwalt Brandl und Christa Brauner ein Konzept für eine 3-semestrige Ausbildung zur Schreibpädagogin/zum Schreibpädagogen. 13 TeilnehmerInnen schlossen den ersten Durchgang ab. Die Ausbildung wurde am polycollege Stöbergasse bis 2003 weitergeführt und übersiedelte danach zur „Wiener Volksbildung“.

1999 übernahm Christa Brauner die Leitung der „Schreibwerkstatt Stöbergasse“. Sie erarbeitete ein Curriculum für ein „polycollege für angewandte Literatur und Kommunikation“ ähnlich dem Konzept für ein „Österreichisches Institut für Kreatives Schreiben“, das Josef Haslinger dem Bundeskanzleramt vorlegte. Beide Vorhaben wurden nicht umgesetzt. Stattdessen entstand 2009 das „Institut für Sprachkunst“ an der Universität für angewandte Kunst in Wien, ein Studium mit dem Schwerpunkt transmediale Literatur. Der „Lehrgang Wiener Schreibpädagogik“ wird bis heute im 2004 gegründete Berufsverband Österreichischer SchreibpädagogInnen (BÖS) fortgeführt. Basis ist das von Gerwalt Brandl und Christa Brauner entwickelte Curriculum, das laufend methodisch und didaktisch weiterentwickelt wird.[7]

Theorie

"Intransitives Schreiben"

Die literarischen Vorbilder der Wiener Schreibpädagogik stammen aus der Literatur der Moderne (Surrealismus, Oulipo, Wiener Gruppe, James Joyce, Gertrude Stein, Arno Schmidt etc.), die nicht (mehr) versucht, ein realistisches Abbild der Welt zu erschaffen, sondern auf den Materialaspekt der Sprache und auf Vorstellungen, die aus dem Unbewussten kommen, vertraut.

Es zählt nicht mehr der abgeschlossene Text, dessen Bedeutung von LeserInnen, KritikerInnen, LiteraturwissenschaftlerInnen aufgespürt werden kann, sondern der Prozess des Schreibens. Dieses Schreiben, das sich nicht mehr auf ein Objekt bezieht (“Ich schreibe (über) etwas“), sondern nur auf sich selbst („Ich schreibe“), nennt Gerwalt Brandl in Anlehnung an Roland Barthes „intransitives Schreiben“.[8]

Der Schreibprozess, den die Schreibanimationen der Wiener Schreibpädagogik anstoßen, richtet sich primär nicht an ein Gegenüber, es gibt keinen Zwang, etwas mitzuteilen oder darzustellen. Schreiben ist ein selbstreflexiver Prozess, Selbsterfahrung ohne therapeutischen Anspruch. Die Sprache und das Unbewusste liefern das Material für den Schreibprozess, der keinem Mitteilungs- oder Darstellungszwang unterliegt. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Texte selbstreferenziell sind. Dadurch, dass sich das Schreiben auf das schreibende Subjekt bezieht, das in der Welt steht, findet auch die Welt ins Schreiben Eingang. Ziel der  Wiener Schreibpädagogik ist es, schreibend Ich, Welt und Sprache zu reflektieren.[9]

Petra Ganglbauer, Autorin und Schreibpädagogin, betont die zentrale Stellung der Sprache in der Wiener Schreibpädagogik. Durch das Ausloten der Regeln und Gesetzmäßigkeiten der Sprache im Schreibprozess erfahren die Schreibenden, welche Ausdrucksmöglichkeiten die Sprache besitzt, wie sie mit gesellschaftlicher Realität interagiert und wo ihre Grenzen sind.[10]

Lehr- und Lernbarkeit von literarischem Schreiben

Die Schreibanimationen der Wiener Schreibpädagogik leiten an zu einem spielerischen Umgang mit der Sprache. Dabei geht es nicht darum, die Welt zu erklären. Inhalt und Form entstehen organisch aus dem gesammelten Material. Diese Art zu schreiben kann von jedem erlernt werden. Das bedeutet, jede/r kann schreiben im Sinn von: sich in einer über die Alltagssprache hinaus gehenden Form äußern.

Kunstanspruch und "Schreibwerkstattliteratur"

Da die Wiener Schreibpädagogik im Rahmen einer Volkshochschule entwickelt wurde, entstand sowohl für die Methode als auch für die daraus entstehenden Texte ein Imageproblem. Nicht-akademischen Einrichtungen wird eine relevante Methodenentwicklung nicht zugestanden.[11] Die Inflation des Adjektivs „kreativ“ tut ein Übriges. „Schreibwerkstattliteratur“ wird als künstlerisch irrelevant, Hobbykunst, Freizeitbeschäftigung abgetan.[12]

Praxis

Schreibanimationen[13]

Anders als beim Schreiben im Alltag oder in der Schule, geht die Wiener Schreibpädagogik nicht von inhaltlichen Vorgaben oder einem Thema aus. Mit Hilfe von Schreibvorschlägen (auch Schreibanimationen genannt) generiert man in einem ersten Schritt das „Ausgangsmaterial“ durch freie Assoziation, durch Alliteration oder Reim, durch zufälliges Aufschlagen von Lexika oder Gedichtbänden, aus Redewendungen, Märchen oder Gebrauchstexten, ausgehend von Gegenständen, Fotos oder aus Gruppenschreibspielen. In einem zweiten Schritt wird dieses Sprachmaterial bearbeitet, neu kombiniert, verfremdet. Dieses Material wird im Text entweder direkt verwendet, als Montage oder Collage, oder es dient als Grundlage für freies Spiel der Fantasie, als Titel, als unausgesprochene Botschaft.

Konkrete Beispiele für Schreibanimationen, wie sie in der Wiener Schreibpädagogik verwendet werden, finden sich in der Anthologie „vom wortfall vom sammeln“[14], in der zweiten Nummer des Hund im Saturn[15], der Zeitschrift des nicht mehr existierenden "Wiener Instituts für Schreibpädagogik und Schreibtherapie" (WISS), und in den von Irene Wondratsch für die Arbeiterkammer zusammengestellten Unterrichtsunterlagen „Achtung Bissige Bytes! Kreatives Schreiben im Unterricht zum Thema Arbeitswelt“[16].

Schreiben in der Gruppe

Die Wiener Schreibpädagogik nutzt, wie viele andere Methoden, die Schreibgruppe als Motivation und Inspiration. Viele Schreibspiele sind von Verfahren des kollektiven Schreibens abgeleitet, die von AutorInnen der Moderne gepflegt wurden. Darüberhinaus ist die Schreibgruppe das erste Publikum, dem die Texte meist unmittelbar nach ihrem Entstehen präsentiert werden. Dementsprechend ausführlich beschäftigt sich die Wiener Schreibpädagogik mit Methoden des Textfeedbacks und der Textanalyse.

Textfeedback und Textanalyse

Sowohl in Schreibgruppen als auch in der Ausbildung zum Schreibpädagogen / zur Schreibpädagogin wird besonders darauf geachtet, dass Reaktionen auf Texte sachlich und respektvoll formuliert werden.  Das Textfeedback ist eine unmittelbare subjektive Reaktion, die beschreibt, wie der Text auf den Rezipienten, die Rezipientin wirkt. Es wird nicht nach der Bedeutung des Textes gesucht.[17]

Die Textanalyse hingegen untersucht, wie ein Text gemacht ist: struktureller Aufbau, Erzählstimme, Stil etc. Das setzt ein gewisses Maß an Erfahrung mit den handwerklichen Aspekten des Schreibens voraus.

Lehrgang Wiener Schreibpädagogik - Curriculum

Für die 1997/98 erstmals angebotenen Ausbildung zur Schreibpädagogin/zum Schreibpädagogen entwickelten Gerwalt Brandl und Christa Brauner ein Curriculum, das mit geringfügigen Veränderungen bis heute die Grundlage für den „Lehrgang Wiener Schreibpädagogik“ bildet.[18]Die Ausbildung kann in drei Semestern absolviert werden. Basis sind sechs Module, Blocklehrveranstaltungen im Ausmaß von je 21 Unterrichtseinheiten:

In den beiden Grundkursen „Sprachinszenierungen“ und „Motivinszenierungen“ wird einerseits Sprache in ihre Grundbausteine zerlegt und neu zusammengesetzt und andererseits das Unbewusste als Materiallieferant entdeckt, indem man unzensiert auf Anregungen von außen, Wahrnehmungen aller Art, reagiert.[19]

In den beiden Aufbaukursen „Poetik I“ und „Poetik II“ wird mit Bestandteilen der Grammatik, der Metrik und der Stilistik gespielt. Es geht um Sprachrhythmus, Versmaß, Reim, Stilfiguren, Grammatikregeln, die ausprobiert und verfremdet werden. Außerdem werden traditionelle und zeitgenössische literarische Texte analysiert und dienen als Grundmaterial für das eigene Schreiben und zur Entwicklung von Schreibanimationen.[20]

In den Fortgeschrittenenkursen „Vom Feedback zur Textanalyse“ und „Sprache als Kunst“ werden einerseits eigene und fremde Texte beurteilt und überarbeitet und Methoden der Feedback- und Kritikmoderation erlernt. Andererseits geht es um eine Erweiterung des Schreibens durch Kombination mit anderen Kunstgattungen.[21]

Ergänzt werden diese Basis-Module durch frei wählbare, vertiefende Workshops zu verschiedenen literarischen Genres und zu diversen Aspekten des Schreibens. Die Workshops „Berufsbild Autorin“ und „Berufsbild Schreibpädagogik“ müssen verpflichtend absolviert werden.[22]

Ziel des „Lehrgangs Wiener Schreibpädagogik“, so heißt es in der Ausschreibung des Verbandes Wiener Volksbildung aus dem Jahr 2004, ist die „Ausbildung und Weiterentwicklung von literarischer, kommunikativer, methodischer und didaktischer Kompetenz. Daraus erwächst die Fähigkeit, Gruppen und Einzelne in ihrem schöpferischen Prozess zu begleiten und zu fördern, Schreibgruppen und Workshops zu leiten. Daraus ergibt sich das weitere Ziel, Schreibpädagogik innerhalb des jeweiligen gesellschaftlichen Kontexts ausüben zu können und als Beruf zu installieren“.[23]

Dieses Ausbildungskonzept wird mit Abwandlungen im Berufsverband österreichischer SchreibpädagogInnen (BÖS) bis heute fortgeführt.

Literatur


Weblinks

Einzelnachweise

  1.  Viktor Billek, Gerwalt Brandl, Christine Brauner et.al.: Polycollege "Schreibwerkstatt Stöbergasse". Volkshochschule Margareten. In: Die österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung.. Nr. 172, Wien 1994, S. 26-28 (Einsehbar im Österreichischen Volkshochschularchiv. http://archiv.vhs.at/vhsarchiv_suche.html?result=1&id=42923&count=14).
  2.  Marlen Schachinger: Werdegang. AutorInnen zwischen autodidaktischer und institutioneller Ausbildung.. Dissertation der Universität Wien., Wien 2012, S. 469 (http://othes.univie.ac.at/19280/1/2012-03-12_8905229.pdf).
  3.  Marlen Schachinger: Werdegang. AutorInnen zwischen autodidaktischer und institutioneller Ausbildung.. a.a.O., S. 472.
  4. zum Beispiel in der Alten Schmiede Wien: https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20020927_OTS0042/alte-schmiede-anleitungen-zum-schreiben
  5.  vom wortfall vom sammeln. Edition Volkshochschule, Wien 2002, ISBN 3-900799-44-X.
  6.  Marlen Schachinger: Werdegang. AutorInnen zwischen autodidaktischer und institutioneller Ausbildung.. a.a.O., S. 468 ff.
  7. BÖS. Unsere Geschichte. Abgerufen am 10.12.
  8.  Marlen Schachinger: Werdegang. AutorInnen zwischen autodidaktischer und institutioneller Ausbildung.. a.a.O., S. 473.
  9.  Marlen Schachinger: Werdegang. AutorInnen zwischen autodidaktischer und institutioneller Ausbildung.. a.a.O., S. 474.
  10.  Anita C. Schaub: Die Sprache ist ein Organismus. In: Wiener Zeitung. Beilage extra, 28. Juli 2007, S. 8.
  11.  Marlen Schachinger: Werdegang. AutorInnen zwischen autodidaktischer und institutioneller Ausbildung.. a.a.O., S. 481.
  12.  Marlen Schachinger: Werdegang. AutorInnen zwischen autodidaktischer und institutioneller Ausbildung.. a.a.O., S. 483.
  13.  vom wortfall vom sammeln. Edition Volkshochschule, Wien 2002, ISBN 3-900799-44-X.
  14.  vom wortfall vom sammeln. Literarische Arbeiten und Schreibanimationen der Schreibwerkstätten Stöbergasse 1984-2000. Wien 2002.
  15.  Hund im Saturn. In: Zeitung des WISS. Heft 2, 1994.
  16.  Irene Wondratsch: Achtung bissige Bytes! Kreatives Schreiben im Unterricht zum Thema Arbeitsweilt.. Wien 1999, ISBN 3-7063-013-9.
  17.  Marlen Schachinger: Werdegang. AutorInnen zwischen autodidaktischer und institutioneller Ausbildung.. a.a.O., S. 482.
  18. Volksbildungshaus Wiener Urania, Kursprogramm 2004: https://adulteducation.at/de/weiterbildung/1266
  19.  Marlen Schachinger: Werdegang. AutorInnen zwischen autodidaktischer und institutioneller Ausbildung.. a.a.O., S. 682.
  20.  Marlen Schachinger: Werdegang. AutorInnen zwischen autodidaktischer und institutioneller Ausbildung.. a.a.=., S. 683.
  21.  Marlen Schachinger: Werdegang. AutorInnen zwischen autodidaktischer und institutioneller Ausbildung.. a.a.O., S. 683.
  22.  Marlen Schachinger: Werdegang. AutorInnen zwischen autodidaktischer und institutioneller Ausbildung.. a.a.O., S. 471/472.
  23. Volksbildungshaus Wiener Urania, Kursprogramm 2004: https://adulteducation.at/de/weiterbildung/1266