Dr. med. Ulrich Vetsch wurde am 29. Februar 1856 als Sohn einer alteingesessenen Familie im Städtchen Werdenberg geboren. Mit 17 Jahren schon bestand er die Maturitätsprüfung und bezog nun als Medizinstudent vorerst die Universitäten Zürich und Genf. In den Jahren 1876/77 studierte er in Leipzig. Das medizinische Staatsexamen legte er in Zürich ab. Während zwei Jahren betätigte er sich als Assistenzarzt am Kantonsspital in Münsterlingen unter Kappeler, dem er Zeit seines Lebens grosse Verehrung entgegenbrachte. Inzwischen reifte in ihm der Entschluss, sich dem Spezialstudium der Ophtalmologie zu widmen; so arbeitete er ein Jahr lang an der Augenklinik von Professor Homer in Zürich, um nachher in den grossen Spitälern von Wien, Paris und London seine medizinischen Kenntnisse zu erweitern. Hand in Hand mit seinem Berufsstudium wurde er nicht müde, sich eine wahrhaft glänzende allgemeine Bildung anzueignen, und so trat er denn, wohl ausgerüstet als Fachmann und fein gebildeter Mensch, beseelt von mutigem Tatendrang, im Jahre 1883 im Alter von 27 Jahren in St. Gallen als ausübender Arzt ins praktische Leben. Wie schon sein Studiengang erkennen liess, war es die von ihm ausgeübte Augenheilkunde, die seinen Ruf als viel gesuchten und in der ganzen Ostschweiz und in den benachbarten ausländischen Bodensee- und Rheingebieten angesehenen Spezialisten begründete; daneben war er der Vertrauensarzt zahlreicher Familien in Stadt und Kanton. Es war ihm Gewissenspflicht, auch in der allgemeinen Medizin sich zu betätigen und auf der Höhe zu bleiben, um der den ausschliesslichen Spezialisten drohenden Gefahr der Einseitigkeit zu begegnen. Durch die im Jahre 1884 erfolgte Verheiratung mit Fräulein Helene Wetter, der Tochter einer alt eingebürgerten stadt-st. gallischen Familie, fasste er auch gesellschaftlichen Fuss an der von ihm frei gewählten Stätte seiner Wirksamkeit, und so führten Beruf und Familie ihn auch dem Gemeinwesen näher. Als Mitglied der Chefärzte-Konferenz spielte er eine von Jahr zu Jahr wachsende Rolle. Sein Organisationstalent liess ihn in den Verwaltungs- und Betriebsfragen, sein praktischer Blick in den Baufragen ein entscheidendes Wort mitreden. So sehr wurde er im Laufe der Jahre verwachsen mit der Entwicklung dieser Krankenanstalt, dass, als im Jahre 1919 mit dem Rücktritt von Dr. A. Vonwiller die bisherige Direktion als solche einging, die Übernahme der administrativen Spitalleitung durch Dr. Vetsch als neuem Präsidenten der Chefärzte-Konferenz als die von vornherein gegebene Lösung erschien. Neben seiner Tätigkeit als Spitalarzt und neben seiner von Stadt und Land besuchten Sprechstunde war er während Jahren in der eigenen Privatklinik tätig, und weiter wäre das Bild des Arztes Vetsch unvollständig, wenn nicht auch seiner als des vieljährigen Anstaltsarztes gedacht würde. Er war ein lieber, geduldiger, freundlicher Kinderarzt, der manch stammelnd fragender Kinderseele trostreiche Antwort wusste. In der Taubstummenanstalt war er während langen Jahren auch in der Anstaltskommission tätig. Vor allem in der Mitte der neunziger Jahre, als das neue Anstaltsgebäude werden sollte, führte er mit sicherer Hand die Baukommission. Wenn wir von der aussichtsreichen Höhe, auf der die Taubstummenanstalt steht, ins Tal gen Westen blicken, zeigt sich uns eine erst vor wenigen Jahren entstandene gemeinnützige Anstalt, die mit dem Namen Dr. U. Vetsch unvergesslich verbunden ist, das Altersheim für allein stehende Frauen. Zusammen mit Herrn Pfarrer Pestalozzi wusste er dieses segensreiche Werk ganz im Stillen aus dem Boden zu stampfen. Wo es galt, wahrhaft Gutes zu tun, selbst mit reichlich spendender Hand das gute Beispiel gebend, wusste er den wohltätigen Sinn zu wecken und die Mittel flüssig zu machen. Nicht allein aus bedrängten Kinderherzen auf der Höhe des Rosenbergs wurden dem Heimgegangenen Dankesworte, auch alternde Frauenhände werden dankerfüllt gefaltet werden, draussen im Altersheim. Im Jahre 1888, in seinem zweiunddreissigsten Lebensjahre, wurde Dr. Vetsch in den Gemeinderat der Politischen Gemeinde St. Gallen gewählt, und damit begann eine dreissigjährige öffentliche Tätigkeit, deren Fülle neben der ausgedehnten beruflichen Wirksamkeit sich nur durch die beispiellose Schaffenskraft dieses aussergewöhnlichen Mannes erklären lässt. In allen wichtigeren Kommissionen, bei allen grösseren die Gemeinde berührenden Fragen sehen wir ihn, oft initiativ und vielfach entscheidend, mitwirken. Der philanthropischen Seite seines Wesens entsprach seine Tätigkeit als Mitglied des Waisenamtes von 1888 bis 1900, der Arzt stellte sich von 1889 bis 1909 als Mitglied der Gesundheits-kommission in den Dienst der städtischen Hygiene, ebenso kam sein medizinisch-sachverständiger Rat der Arbeiter-Krankenkommission und der Kommission für die Hilfskasse der städtischen Beamten, Angestellten und Arbeiter zugute. In der Trambahn-Kommission war er von Anfang an (1897) bis zu seinem Rücktritt als Gemeinderat hervorragend tätig. Eine ganz neue Seite seines viel gestalteten Könnens arbeitete sich aber heraus, als er die Notwendigkeit erkannte, dass es Pflicht der städtischen Gemeindebehörde sei, auf die verkehrspolitische Entwicklung St. Gallens als Kantonshauptstadt, als Zentrum der Landesindustrie und als st. gallisch-appenzellisches Markt-Milieu bestimmend einzuwirken. Mit der Konstituierung der Bodensee-Toggenburgbahn-Gesellschaft im Jahre 1904 wurde Dr. Vetsch einer der städtischen Vertreter im Verwaltungsrate der Bahngesellschaft. Dieser Behörde wie auch der Direktionskommission des Unternehmens gehörte er bis zu seinem Tode an. Bau und Betrieb widmete er seine unausgesetzte Aufmerksamkeit. So unentbehrlich der neue Schienenstrang sich den kantonalen Verkehrsbedürfnissen erwies. und so sehr es ihn mit Genugtuung erfüllen musste, einen so hervorragenden Anteil an diesem Werke gehabt zu haben, so schwer lastete die Tatsache auf ihm, dass sich die Bahn, in der Bedrängnis der durch den Krieg gezeitigten volkswirtschaftlichen Verhältnisse, zum eigentlichen Sorgenkind des Kantons entwickelte. Der Verkehrspolitiker der Gemeinde wuchs zum Verkehrspolitiker des Kantons und weiter zum schweizerischen Verkehrspolitiker. Die grosse Frage des östlichen Alpendurchstichs - wie viele seiner arbeitsvollen Nächte hindurch beschäftigte sie ihn! Im Kampfe: Hie Splügen, hie Greina! stand er in Wort und Schrift an vorderster Stelle als Mitglied des engeren Splügenkomitees. Die verkehrspolitische Bedeutung der Rhein-Bodenseelinie liess ihn auch der Schifffahrtsfrage mit der ihm eigenen impulsiven Kraft näher treten, und bald treffen wir ihn auch hier an führender Stelle im Gründungskomitee des Schifffahrtsverbandes Rhein-Bodensee. Noch sehen wir ihn vor uns, bei der begeisterten Gründungsversammlung am 2. Februar 1908 in Rorschach. Mit den führenden Männern in Konstanz, Basel und Zürich ist er bald in regstem Verkehr, auch wieder ganze positive Arbeit liefernd. Trotz seiner Überlast an Arbeit findet er immer wieder Zeit, heute hier, morgen da sich an wichtigen Konferenzen zu beteiligen, überall massgebend mitarbeitend. So erwarb sich der Verkehrspolitiker Dr. Vetsch bald einen geachteten Namen im Schweizerland. Im Jahre 1916 war es ihm nicht zu viel als Präsident an die Spitze des Schifffahrtsverbandes Rhein-Bodensee zu treten. Eine wohlverdiente Ehrung seiner verkehrspolitischen Verdienste war es, als ihn der Bundesrat vor einigen Jahren zum Mitgliede des Verwaltungsrates der Bundesbahnen ernannte. Er gereichte dieser wichtigen Verkehrsbehörde zur Zierde und erfreute sich in derselben allgemeinen Ansehens. Der Kanton war nicht müde, die Dienste dieses vielseitigen Bürgers in Anspruch zu nehmen. Neben all dem Gesagten sehen wir ihn in den neunziger Jahren als Mitglied der Aufsichtskommission der kantonalen Strafanstalt und später, bis zu seinem Tode, in gleicher Eigenschaft bei der Heil- und Pflegeanstalt St. Pirminsberg. Nicht bloss in Anstaltsbetriebsfragen versiert wie nicht bald einer, nahm er es auch beim Studium von Anstaltsbauten mit dem Fachmann auf. Dank der Vielseitigkeit seines öffentlichen Wirkens war Dr. Vetsch seit 1898 auch ein unentbehrliches und einflussreiches Mitglied des st. gallischen Grossen Rates. Den durch den Krieg gezeitigten Weltereignissen und ihren Rückwirkungen auf sein von ihm so heiss geliebtes Heimatland stand er als aufmerksamster Beobachter gegenüber, mit der ganzen Leidenschaft seines impulsiven Wesens Partei nehmend für das ihn richtig Erscheinende. Die ins Gigantische gestiegenen Leiden der vom Krieg betroffenen Menschheit ergriffen aufs heftigste seine fühlende Seele. Wo es zu lindern gab, stellte er auch wieder seinen Mann. Alsbald sehen wir ihn mit an der Spitze einer Hilfsaktion für das leidende Vorarlberg und Liechtenstein, mit welchem Nachbarvolke ihn liebe Jugenderinnerungen verknüpfen. Dieses heimatliche Gedenken paarte sich mit seinen politischen Reflexionen über die künftige Lage unseres Heimatlandes in dem durch den Krieg umgestalteten Europa, und so fühlte er sich berufen, mit der ganzen Wucht seiner Persönlichkeit sich der Vorarlberger Anschlussfrage anzunehmen. Nicht ohne Bangen verfolgte seine treu besorgte Gattin die alltägliche Zeugin der beispiellosen, fast keine Ruh noch Rast kennende Hingabe an die mannigfachen, immer wieder neuen Aufgaben, die sich der Lebensgefährte stellte, nicht ohne Sorge verfolgten auch die näheren Freunde diese neue Last, die der Unermüdliche sich auflud. Noch einmal sollte der ganze Vetsch sich einsetzen für ein, wie er sich überzeugend sagte, hehres politisches Ziel, wo es gelte, für das eigene Land eine aussenpolitische Gefahr zu beschwören, ihm gleichzeitig verkehrspolitisch verheissungsvolle Wege zu ebnen, sowie dem benachbarten stammverwandten Volke einen freiheits-politischen Traum zu verwirklichen. An dieser sich neu gestellten Aufgabe sollten sich seine seit langem aufs äusserste angespannten Kräfte erschöpfen. An seinem helllichten Arbeitstage begannen die Schatten aufzusteigen. Eine andere unentbehrliche Erholung fand er in der schönen Literatur. Er war während langen Jahren vollständig a` jour in der zeitgenössischen belletristischen Literatur in den drei Landessprachen und im Englischen. Sein grosses literarisches Interesse hiess ihn schon in den ersten Jahren seiner Wirksamkeit in der Stadt der Museumsgesellschaft näher treten, in der er bald reformerisch tätig war. Nach dem langjährigen Präsidium Linden nahm er als Präsident die Zügel in die Hand und ging ganz neue Wege. Durch die Umbaute des alten Museums am Markt wusste er dem Unternehmen eine neue, finanziell gesicherte Grundlage zu geben, und durch die Einführung der literarischen Abende der Gesellschaft neue Freunde zuzuführen. An seiner Hand stellten sich Isabella Kaiser, Joseph Viktor Widmann, Karl Spitteler, Arnold Ott, Klara Biebig den st. gallischen Literaturfreunden vor, und unvergesslich sind die Stunden, in denen man sich in seinem gastlichen Hause solch auserlesener Gesellschaft erfreuen durfte. Auch als der viel verdiente Ehrenpräsident dieser Gesellschaft nahm er an deren Interessen noch tätigen Anteil, so vor allem bei der Lösung der Neubaufrage. Vor wenigen Wochen fühlte er seine Kräfte schwinden; er, der sich glaubte, alles zutrauen zu dürfen, was in seinem Wirkungskreis der leidenden Menschheit Hilfe zu bringen und das öffentliche Wohl zu fördern geeignet war, er musste einsehen, dass es nun an der Zeit wäre, an sich selbst zu denken. Kurz entschlossen, wenn auch schweren Herzens, gedachte er einen mehrmonatlichen Urlaub anzutreten und ganz seiner Erholung zu leben. Schneller, als er ahnen mochte, stellte sich der Kräftezerfall ein. Wohl hoffte er noch vor 14 Tagen, in der Obhut seiner treuen Gattin eine Badekur im Val Sinestra antreten zu können. Es sollte nicht sein; wiederholt auftretende Gehirnblutungen warfen ihn auf das Krankenlager; verschiedentlich schien es, als ob seine ausserordentliche Lebensenergie noch einmal den zerstörenden Kräften Einhalt zu gebieten vermöchte. Aber schon war sein heller Geist, der sein irdisches Dasein zu einem so schöpferischen zu gestalten wusste, getrübt und so trat der Tod als Erlöser an ihn heran zu Beginn der letzten Tagesstunde des letzten Monats. Dr. Ulrich Vetsch erreichte ein Alter von 64 Jahren und 5 Monaten.

  • Auszug aus dem «St. Galler Tagblatt», Anfang August 1920, bearbeitet von Bartholomé Gantenbein, Grabs (2006), Ernst & Renate Heim, Wolfurt (2022)