Wert des Lebens
Wert des Lebens ist eine Ausstellung im ersten Stock des Schlosses Hartheim in Oberösterreich.
Sie informiert über den Umgang der Gesellschaft mit behinderten Menschen vom Beginn der Industrialisierung bis zur Gegenwart. "Der Bogen spannt sich von der „ökonomischen Wertung“ des Menschen am Beginn der Industriegesellschaft bis zur aktuellen Forderung nach gesellschaftlicher Gleichstellung behinderter Menschen und den Fragen nach den ethischen Grenzen der Entwicklung in Medizin und Biowissenschaften."[1]
Geschichte der Ausstellung
2003 wurde die Ausstellung eröffnet. 2017 begann die Suche nach einer Neukonzeption und 2019 wurde die Ausstellung zunächst geschlossen, um den Umbau zu beginnen. Als Kuratoren fungierten Brigitte Kepplinger (Obfrau des Vereins Schloss Hartheim) und Florian Schwanninger (Leiter der Gedenkstätte), die Gestaltung wurde von Hans Kropshofer und Gerald Lohninger übernommen. Am 30. Mai 2021 wurde sie wieder eröffnet.
Inhalt der Ausstellung[2]
Wert des Lebens – Umgang mit den Unbrauchbaren
Im Schloss Hartheim wurden zehntausende Menschen in der Zeit des Nationalsozialismus ermordet. Diese Tatsache ist der Ausgangspunkt zu Überlegungen über den Wert des Lebens. Es geht dabei um den Umgang mit Menschen, die als "unbrauchbar" bezeichnet werden.
Die Ausstellung untersucht die Entwicklung der Gesellschaft in den letzten 250 Jahren. Damals hat man die Menschen eingeteilt: "Brauchbare Menschen" konnten in Fabriken arbeiten. "Unbrauchbare Menschen" waren dafür nicht geeignet.
Religion und Wissenschaft
Früher haben Christen geglaubt: Gott braucht alle Menschen. Auch Kranke, Arme und Erfolglose sind Teil von Gottes Plan. Im Laufe der Jahrhunderte entstanden Institutionen, die sich dieser Menschen annahmen.[3] Später entwickelten sich Humanismus und Aufklärung. Die Menschen glaubten nun an die Wissenschaft. "So sollte es möglich werden, Natur, Mensch und Gesellschaft zu messen, zu analysieren, zu gestalten und zu verbessern."[4]
Die Vernunft der Industrie
Ausgehend von England entwickelte sich im 19. Jahrhundert der Kapitalismus: menschliche Arbeitskräfte wurden durch Maschinen ersetzt. Der Markt bestimmte weitgehend das Leben. Die produzierten Waren wurden auf der ganzen Welt verkauft. In den Fabriken wurden nur Menschen beschäftigt, die körperlich und geistig gesund, leistungsfähig, püntklich, gehorsam, arbeitswillig und genau waren.
So entstand eine neue Gruppe in der Gesellschaft: die Industriearbeiterschaft. Wer nicht in der Fabrik arbeiten konnte, musste durch die Familie unterstützt werden oder ins Armenhaus oder eine ähnliche Hilfsorganisation gehen.
Sorge für die "Unbrauchbaren"
Lange Zeit kümmerten sich kirchliche und private Einrichtungen um die Unterstützung der Armen und Unbrauchbaren. Erst das Reichsgemeindegesetz von 1862[5] regelte, dass die Gemeinden sich um arme Bürger kümmern mussten. Das Heimatrecht von 1863[6] legte die Voraussetzungen dafür fest, Unterstützung konnte man nur in der Heimatgemeinde bekommen.
Eugenik: Biologisierung des Sozialen
Als Charles Darwin die Theorie aufstellte, dass sich im "Kampf ums Dasein" immer die geeignetste biologische Art durchsetzte, folgerte man daraus, "der Staat sollte die Fortpflanzung von geistig und körperlich „hervorragenden“ Individuen fördern, die von „minderwertigen“ unterbinden."[7]
Die Vernichtung der "Unbrauchbaren"
Die Nationalsozialisten sagten: "Wenn unbrauchbare Menschen vernichtet sind, braucht das Volk für diese Menschen kein Geld mehr auszugeben.[8] Ihr Ziel war die rassisch reine, arische und erbgesunde Volksgemeinschaft. Deshalb wurden Juden, Behinderte und psychisch Kranke aus der Gesellschaft hinausgedrängt. Ab 1939 wurden große Menschenmassen ermordet.[9]
In der Gaskammer in Hartheim fielen in der Zeit von 1940 bis 1944 dem Euthanasie-Programm etwa 30.000 Menschen zum Opfer.[10]
Widerstand gegen die NS-Euthanasie
Die Nazis haben viele Menschen mit Behinderungen oder psychischen Krankheiten heimlich umgebracht – die Aktion T4. Aber diese Aktion blieb nicht geheim. Einzelne Menschen haben Widerstand geleistet. Vor allem von kirchlicher Seite gab es Widerstand.[11]
Bruch und Kontinuität
Nach 1945 gab es in Deutschland und Österreich einen Bruch: Anhänger des Nationalsozialismus durften zunächst keine politischen Ämter bekleiden. Aber vieles wurde wenig verändert: In der Betreuung von Menschen mit psychischer Krankheit oder Behinderung blieb vieles, wie es war. Opfer der NS-Herrschaft wurden weithin nicht anerkannt: Homosexuelle, Zwangssterilisierte.
Ärzte, die der NS-Ideologie nahestanden, durften unbehelligt ihren Beruf weiter ausüben. Die Kinder der ermordeten Menschen bekamen keine Entschädigung. In vielen Ländern wurden die Ideen der Eugenik nach dem Krieg für richtig gehalten. "Man wollte gesunde, klügere, stärkere und schnellere Menschen."[12] Es gab Überlegungen, Menschen in der Dritten Welt unfruchtbar zu machen, damit sie sich weniger stark vermehrten.
Aufbruch
In den 70-er und 80-er Jahren fingen Menschen mit Behinderungen an, die Betreuung zu kritisieren und ein selbstbestimmtes Leben zu fordern. Auch Ärzte und Pflegekräfte stellten die Verhältnisse in Frage. Solche Bewegungen gaben der Aufarbeitung der NS-Euthanasie Auftrieb.
1978 wurde künstliche Befruchtung Wirklichkeit: die Befruchtung einer Eizelle außerhalb des menschlichen Körpers, die Einpflanzung des Embryos danach in die Gebärmutter und die Geburt eines gesunden Kindes. Auch die Möglichkeit der Untersuchung des Embryos war damit verbunden.
Die Antibabypille und die Möglichkeit der Abtreibung eröffneten neue Möglichkeiten der Familienplanung – wer nicht wollte, musste kein Kind bekommen. Sexualität und Fortpflanzung waren von einander getrennt.
Visionen
Die Ausstellung beschreibt zwei Visionen:
- Die UN-Behindertenrechtskonvention hat die Inklusion zum Ziel: alle Menschen sollen gleichberechtigt Mitglied in der Gesellschaft sein.
- Die andere Vorstellung der Wissenschaft ist, die menschlichen Genome zu entschlüsseln und zu bearbeiten. Das Klonen von Tieren wurde 2003 möglich, zwei Lebewesen mit genau denselben Anlagen konnten geschaffen werden.
Die Frage stellt sich, ob diese Erkenntnisse nur für neue Therapiemöglichkeiten wichtig sind, also Krankheiten zu heilen, oder ob man auch bestimmte Behinderungen abschaffen will?
Industrie 4.0
Zwei Entwicklungen haben Wirtschaft und Gesellschaft verändert:
- die Entwicklung des Personal-Computers in den 1970er Jahren und
- die Verbreitung des Internets in den 1990er Jahren.
Maschinen können heute digital – auch über das Internet – gesteuert werden. Dokumente werden am Computer geschrieben und können digital in alle Welt verschickt werden. Digitalisierung ermöglicht, dass ungeheure Datenmengen gesammelt und gespeichert werden. Arbeitnehmer können so überwacht werden, und auch im Privatleben sind Überwachungen möglich.
Digitalisierung hat Vorteile: Behödenwege können vermieden werden, wenn Eingaben am heimischen Computer möglich sind. Blinde Menschen müssen nicht für Gänge zum Amt aus dem Haus gehen. Dokumente können mit technischen Hilfsmitteln leichter gelesen werden. Digitalisierung hat auch Nachteile: Viele Arbeitsplätze sind abgeschafft worden, weil Computer die Arbeit der Menschen übernommen haben. Technische Hilfsmittel sind nicht für alle Menschen verfügbar, sie sind darüber hinaus oft teuer.
Kinder machen
Medizinische Möglichkeiten haben sich seit der Geburt des ersten Retortenbabys 1978 vervielfältigt. Die Grenzen des biologisch und medizinisch Machbaren werden ausgedehnt.
„Soziale und ethische Fragen werden oft erst im Nachhinein aufgeworfen.
Zentrale Fragen sind: Gibt es ein (Menschen)Recht auf ein – biologisch eigenes – Kind? Gibt es ein Recht auf Finanzierung des Kinderwunsches durch die Solidargemeinschaft? Gibt es ein Recht auf ein gesundes Kind? Darf der Nachwuchs biologisch nach den eigenen Vorstellungen gestaltet werden?“
Mit den Möglichkeiten verdienen Firmen Geld:
Oft kommen die SpenderInnen und Leihmütter aus ärmeren Länder. Menschen mit Kinderwunsch müssen sich das leisten können. Es gibt einen grenzüberschreitenden Reproduktionstourismus.
Das Alter bewältigen
In Österreich sind die Menschen im Alter sozial abgesichert. Sie müssen keine Angst haben, wenn sie alt werden und nicht mehr arbeiten können, wenn sie wegen Krankheit oder Behinderung Hilfe brauchen oder wenn sie arm sind oder werden. Der Generationenvertrag sorgt für diese Absicherung. Junge tragen die Kosten für die Sicherung der Alten und verlassen sich darauf, dass sie im Alter ebenso Rente und weitere Hilfe bekommen.
„Die Solidarität mit den Alten ist nicht selbstverständlich, sie muss immer wieder neu ausgehandelt und bekräftigt werden. Geschieht dies nicht, können utilitaristische Zugänge die Oberhand gewinnen: Das „sozialverträgliche Frühableben“ könnte dann ein Weg werden, das „Langlebigkeitsrisiko“ einzudämmen.“
Auch das Thema Sterbehilfe wird in der Ausstellung angesprochen.
Den Menschen optimieren
„Die Aufklärung schuf die Basis, indem sie Möglichkeit und Notwendigkeit einer Selbstevolution des Menschen theoretisch begründete. Nicht nur Geistesbildung und körperliche Ertüchtigung sollten den Menschen verbessern: Ein Ziel waren direkte Eingriffe in seine biologische Existenz.“
Manche Regierungen wollten schwache, behinderte und kranke Menschen töten, damit die Gesellschaft stärker, gesünder und klüger werde. Viele Menschen haben geglaubt, wenn nur die starken, gesunden und klugen Menschen Kinder bekommen, kann man die Gesellschaft verbessern.
„Aber: Wer bestimmt über Ziel und Richtung eines solchen Prozesses? Gibt es in unserer liberalen und individualisierten Gesellschaft gar eine Pflicht der einzelnen Menschen, ihre Gesundheit und Leistungsfähigkeit permanent zu optimieren?“
Abschluss der Ausstellung
Im letzten Raum werden die Besucher aufgefordert, sich Gedanken über die Präsentation zu machen. Künstler der Region haben Darstellungen geschaffen, die zum Nachdenken anregen. Der Raum schafft äußere Voraussetzungen, mit anderen Menschen zu reden.
Literatur
- Übersicht: Ausstellung "Wert des Lebens in Einfacher Sprache, hrsgb. vom Verein Schloss Hartheim, 2021
- Wert des Lebens - Der Umgang mit den „Unbrauchbaren“, auf "bidok" - behinderung inklusion dokumentation
- Elisabeth Rathenböck, Schloss Hatheim: Die Würde des Menschen und der Wert des Lebens, in: Kronenzeitung, 26.5.21 online-Ausgabe
- Heinz Niederleitner, Neue Ausstellung im Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim, Über die Würde und das Leben, in: Kirchenzeitung Diözse Linz, 1. Juni 2021 (online: [1])
Weblinks
- Wert des Lebens auf der Internetseite von Schloss Hartheim
- Übersicht: Ausstellung "Wert des Lebens", Internetseite des Vereins Schloss Hartheim
- „Wert des Lebens“ – Ausstellung in „NS-Schloss“ Hartheim
- „Wert des Lebens. Der Umgang mit den Unbrauchbaren“
- Gedenkfeier im Schloss Hartheim (am 1. Oktober 2020)
- Produktübersicht im Museumsshop des Lern- und Gedenkortes Schloss Hartheim
Einzelbelege
- ↑ Zitat von der Internetseite der Gemeinde Alkoven
- ↑ Jedes Thema ist in einem Raum der Ausstellung dargestellt.
- ↑ in Deutschland siehe Diakonie Deutschland
- ↑ Darstellung der Ausstellung in Einfacher Sprache, siehe Literatur
- ↑ Geschichte der Gemeinde in Österreich
- ↑ Heimatrecht in Österreich
- ↑ Darstellung der Ausstellung in Einfacher Sprache, siehe Literatur
- ↑ Darstellung der Ausstellung in Einfacher Sprache, siehe Literatur
- ↑ nationalsozialistischer Massenmord
- ↑ Einzelheiten der Tötungen in Hartheim werden auf der Internetseite von BIZEPS beschrieben.
- ↑ Einer der Gründer der Aktion Sühnezeichen war der Richter Lothar Kreyssig. Er wandte sich im Juli 1940 an den Reichsjustizminister mit dem Verdacht, dass die Kranken massenhaft ermordet wurden. Er wurde zwar in den Ruehstand versetzt, es wurde versucht, ihn in ein KZ zu bringen - aber er überstand alles, und gründete später die Aktion Sühnezeichen.
- ↑ Darstellung der Ausstellung in Einfacher Sprache, siehe Literatur