Hedy Bercu: Unterschied zwischen den Versionen

Zur Navigation springen Zur Suche springen
keine Bearbeitungszusammenfassung
K (12 Versionen importiert: bei WP im BNR von Meister ....)
Keine Bearbeitungszusammenfassung
Zeile 1: Zeile 1:
[[Datei:Aufforderung Hedwig Bercu Jersey 1943.jpg|mini|Fahndung nach der verschwundenen Jüdin]]
[[Datei:Aufforderung Hedwig Bercu Jersey 1943.jpg|mini|Fahndung nach der verschwundenen Jüdin]]
'''Hedwig Bercu''', geboren als '''Hedwig Goldberg''', auch ''Hedy'' genannt ([[23. Juni]] [[1919]] – [[2009]]) war eine Überlebende des [[Holocaust]], die während der NS-Besatzung der Kanalinsel [[Jersey]] plötzlich spurlos verschwand, dann 18 Monate lang von einer englischen Dame versteckt und von einem deutschen Offizier mit Lebensmitteln versorgt wurde.
'''Hedwig Bercu''', geboren als '''Hedwig Goldberg''', auch ''Hedy'' genannt ([[23. Juni]] [[1919]] – [[2009]]) war eine Überlebende des [[w:Holocaust|Holocaust]], die während der NS-Besatzung der Kanalinsel [[Jersey]] plötzlich spurlos verschwand, dann 18 Monate lang von einer englischen Dame versteckt und von einem deutschen Offizier mit Lebensmitteln versorgt wurde.


Nach dem Untergang des NS-Regimes heiratete sie den Offizier und zog mit ihm nach Deutschland. Ihre Retterin, [[Dorothea Weber (Gerechte unter den Völkern)|Dorothea Weber]], wurde 2018 posthum als [[Gerechter unter den Völkern|Gerechte unter den Völkern]] ausgezeichnet.
Nach dem Untergang des NS-Regimes heiratete sie den Offizier und zog mit ihm nach Deutschland. Ihre Retterin, [[Dorothea Weber (Gerechte unter den Völkern)|Dorothea Weber]], wurde 2018 posthum als [[w:Gerechter unter den Völkern|Gerechte unter den Völkern]] ausgezeichnet.


== Leben ==
== Leben ==
Es gibt verschiedene Narrative über ihre Herkunft und ihren Geburtsort, genannt werden Österreich und Rumänien. 1938 flüchteten sie und ihre vier Geschwister aus Wien. Die Eltern blieben zurück. Drei Wochen nach den November-Pogromen der sogenannten [[Reichskristallnacht]] langte sie in [[St. Helier]] ein, in der Hauptstadt von Jersey. Sie fand Arbeit als Hausangestellte. Die meisten Juden Jerseys flüchteten – vor der bevorstehenden deutschen Besatzung – nach England, ihr jedoch blieb dieser Weg als "enemy alien" versperrt. 1940 wurden die Kanalinseln von Hitlers Truppen besetzt und Hedwig Bercu befand sich in einer Falle: Die Fährverbindungen nach England waren gekappt und der Norden Frankreichs war ebenfalls von Truppen des NS-Regimes besetzt. Die auf der Insel verbliebenen Juden mussten sich registrieren lassen. Hedwig Bercu versuchte es mit einer Lüge, ihr Vater sei unbekannt und ihre Mutter eine Protestantin, die erst nach ihrer Heirat mit einem rumänischen Juden zum Judentum konvertiert wäre. Der Chief Aliens Officer, Clifford Orange, dokumentierte ihre Angaben penibel und registrierte sie schließlich doch als „jüdisch“.<ref name=TToI >[[The Times of Israel]]: ''[https://www.timesofisrael.com/novel-revives-true-story-of-gutsy-jew-who-survived-nazis-to-marry-german-soldier/ Novel revives true story of gutsy Jew who survived Nazis to marry German soldier]'', 21. November 2020</ref>
Es gibt verschiedene Narrative über ihre Herkunft und ihren Geburtsort, genannt werden Österreich und Rumänien. 1938 flüchteten sie und ihre vier Geschwister aus Wien. Die Eltern blieben zurück. Drei Wochen nach den November-Pogromen der sogenannten [[w:Reichskristallnacht|Reichskristallnacht]] langte sie in [[w:St. Helier|St. Helier]] ein, in der Hauptstadt von Jersey. Sie fand Arbeit als Hausangestellte. Die meisten Juden Jerseys flüchteten – vor der bevorstehenden deutschen Besatzung – nach England, ihr jedoch blieb dieser Weg als "enemy alien" versperrt. 1940 wurden die Kanalinseln von Hitlers Truppen besetzt und Hedwig Bercu befand sich in einer Falle: Die Fährverbindungen nach England waren gekappt und der Norden Frankreichs war ebenfalls von Truppen des NS-Regimes besetzt. Die auf der Insel verbliebenen Juden mussten sich registrieren lassen. Hedwig Bercu versuchte es mit einer Lüge, ihr Vater sei unbekannt und ihre Mutter eine Protestantin, die erst nach ihrer Heirat mit einem rumänischen Juden zum Judentum konvertiert wäre. Der Chief Aliens Officer, Clifford Orange, dokumentierte ihre Angaben penibel und registrierte sie schließlich doch als „jüdisch“.<ref name=TToI >[[w:The Times of Israel|The Times of Israel]]: ''[https://www.timesofisrael.com/novel-revives-true-story-of-gutsy-jew-who-survived-nazis-to-marry-german-soldier/ Novel revives true story of gutsy Jew who survived Nazis to marry German soldier]'', 21. November 2020</ref>


Es gelang ihr, trotz dieser Registrierung, von der Besatzungsmacht als Übersetzerin beschäftigt zu werden, wo sie sich 1942 ausgerechnet in einen Offizier der [[Deutsche Wehrmacht|Deutschen Wehrmacht]], Kurt Rümmele, verliebte.<ref>On this Day in Jersey: ''[https://gbj.je/jersey-refugee-hedy-bercu-is-born/ 23rd June 1919: Jersey refugee Hedy Bercu is born]'', abgerufen am 21. Juni 2024</ref> Rätselhaft erscheinen auch den Historikern zwei Fakten: dass sie trotz Registrierung von einer deutschen Stabsstelle beschäftigt wurde und dass sie 1942 und 1943, als die Juden von den Kanalinseln deportiert wurden, unbehelligt blieb. Für das erste Faktum wird ins Treffen geführt, dass sie als Blondine nicht dem Klischee einer jüdischen Frau entsprach, für zweiteres wird der Schutz durch ihren Geliebten als Möglichkeit in den Raum gestellt. An ihrem Arbeitsplatz war sie auch mit der Verteilung von Benzingutscheinen betraut. Sie soll zahlreiche Benzingutscheine veruntreut haben (und an Ärzte der Insel, die sie dringend benötigten, weitergegeben haben). Im November 1943 inszenierte sie ihren Suizid, schrieb einen Abschiedsbrief und ließ ein Bündel Kleider am Strand von St. Aubin zurück. Ob die Entdeckung ihrer Diebstähle oder eine bevorstehende Razzia der Anlass dafür waren, ist nicht bekannt. Die deutschen Besatzer konnten bis zum Kriegsende keine Spur von ihr finden.<ref name=TToI />
Es gelang ihr, trotz dieser Registrierung, von der Besatzungsmacht als Übersetzerin beschäftigt zu werden, wo sie sich 1942 ausgerechnet in einen Offizier der [[w:Wehrmacht|Wehrmacht]], Kurt Rümmele, verliebte.<ref>On this Day in Jersey: ''[https://gbj.je/jersey-refugee-hedy-bercu-is-born/ 23rd June 1919: Jersey refugee Hedy Bercu is born]'', abgerufen am 21. Juni 2024</ref> Rätselhaft erscheinen auch den Historikern zwei Fakten: dass sie trotz Registrierung von einer deutschen Stabsstelle beschäftigt wurde und dass sie 1942 und 1943, als die Juden von den Kanalinseln deportiert wurden, unbehelligt blieb. Für das erste Faktum wird ins Treffen geführt, dass sie als Blondine nicht dem Klischee einer jüdischen Frau entsprach, für zweiteres wird der Schutz durch ihren Geliebten als Möglichkeit in den Raum gestellt. An ihrem Arbeitsplatz war sie auch mit der Verteilung von Benzingutscheinen betraut. Sie soll zahlreiche Benzingutscheine veruntreut haben (und an Ärzte der Insel, die sie dringend benötigten, weitergegeben haben). Im November 1943 inszenierte sie ihren Suizid, schrieb einen Abschiedsbrief und ließ ein Bündel Kleider am Strand von St. Aubin zurück. Ob die Entdeckung ihrer Diebstähle oder eine bevorstehende Razzia der Anlass dafür waren, ist nicht bekannt. Die deutschen Besatzer konnten bis zum Kriegsende keine Spur von ihr finden.<ref name=TToI />


Unterschlupf fand sie bei der Bäckersgattin Dorothea Weber, deren aus Österreich stammender Ehemann Anton Weber von den Deutschen eingezogen worden war und der damals an der Front stand. Er kam aber fallweise auf Heimaturlaub nach Jersey. Die beiden Frauen teilten sich die Lebensmittelrationen von Dorothea, wurden von Hedwigs Geliebten zusätzlich mit Nahrung unterstützt und gingen bei Nacht auf Angeltour. 18 Monate lang blieb das Versteck unentdeckt, wohl auch weil der Offizier und der Frontsoldat schwiegen. Im August 1944 intensivierten die Besatzer ihre Suchaktionen. Einer Anekdote zufolge, die sich in Aufzeichnungen von Hedwigs Bruder findet und die auch der Historikerin Gilly Carr zugetragen wurde, soll Leutnant Rümmele seiner Geliebte während der Hausdurchsuchungen die Uniform eines Feldwebels angezogen haben und mit ihr spazieren gegangen sein.<ref name=TToI />
Unterschlupf fand sie bei der Bäckersgattin Dorothea Weber, deren aus Österreich stammender Ehemann Anton Weber von den Deutschen eingezogen worden war und der damals an der Front stand. Er kam aber fallweise auf Heimaturlaub nach Jersey. Die beiden Frauen teilten sich die Lebensmittelrationen von Dorothea, wurden von Hedwigs Geliebten zusätzlich mit Nahrung unterstützt und gingen bei Nacht auf Angeltour. 18 Monate lang blieb das Versteck unentdeckt, wohl auch weil der Offizier und der Frontsoldat schwiegen. Im August 1944 intensivierten die Besatzer ihre Suchaktionen. Einer Anekdote zufolge, die sich in Aufzeichnungen von Hedwigs Bruder findet und die auch der Historikerin Gilly Carr zugetragen wurde, soll Leutnant Rümmele seiner Geliebte während der Hausdurchsuchungen die Uniform eines Feldwebels angezogen haben und mit ihr spazieren gegangen sein.<ref name=TToI />
Zeile 16: Zeile 16:


== Resonanz ==
== Resonanz ==
Im November 2016 wurde [[Dorothea Weber (Gerechte unter den Völkern)|Dorothea Weber]] posthum als [[Gerechter unter den Völkern|Gerechte unter den Völkern]] ausgezeichnet.<ref>[[BBC]]: ''[https://www.bbc.com/news/world-europe-jersey-37991912 'Hero' who hid Jewish friend from Nazis honoured at Israeli ceremony]'', 20. November 2016</ref> Eingesetzt für diese Ehrung hatte sich Gilly Carr von der [[University of Cambridge]].<ref>[[The Jewish Chronicle]]: ''[https://www.thejc.com/news/british-woman-honoured-by-yad-vashem-for-saving-her-jewish-friends-from-the-nazis-ty2kw19o British woman honoured by Yad Vashem for saving her Jewish friends from the Nazis]'', abgerufen am 23. Juni 2024</ref> Dorothea Weber war erst die zweite Gerechte von den Kanalinseln.
Im November 2016 wurde Dorothea Weber posthum als ''Gerechte unter den Völkern'' ausgezeichnet.<ref>[[w:BBC|BBC]]: ''[https://www.bbc.com/news/world-europe-jersey-37991912 'Hero' who hid Jewish friend from Nazis honoured at Israeli ceremony]'', 20. November 2016</ref> Eingesetzt für diese Ehrung hatte sich Gilly Carr von der [[w:University of Cambridge|University of Cambridge]].<ref>[[w:The Jewish Chronicle|The Jewish Chronicle]]: ''[https://www.thejc.com/news/british-woman-honoured-by-yad-vashem-for-saving-her-jewish-friends-from-the-nazis-ty2kw19o British woman honoured by Yad Vashem for saving her Jewish friends from the Nazis]'', abgerufen am 23. Juni 2024</ref> Dorothea Weber war erst die zweite Gerechte von den Kanalinseln.


2020 verarbeitete [[Jenny Lecoat]], die aus Jersey stammt, die Lebensgeschichte der Hedy Bercu als Roman. Der Titel der englischen Ausgabe lautet ''Hedy’s War'', der der amerikanischen Ausgabe war ''The Girl from the Channel Islands''. Die Startauflage der US-amerikanischen Ausgabe betrug 100.000 Exemplare, das Buch gelangte auf Anhieb auf die oberen Plätze der [[The New York Times Best Seller list|New York Times Bestsellerliste]]. Die Kritiken waren jedoch ambivalent.<ref>Historical Novel Society: ''[https://historicalnovelsociety.org/reviews/hedys-war-uk-the-girl-from-the-channel-islands-us/ Hedy’s War (UK) / The Girl from the Channel Islands (US)]'', Issue 93, August 2020</ref><ref>Vorab Lesen: ''[https://www.vorablesen.de/buecher/die-uebersetzerin/rezensionen/tolle-reale-story-die-leider-nur-mittelmaessig-umgesetzt-wurde Tolle reale Story, die leider nur mittelmäßig umgesetzt wurde]'', 20. November 2021</ref> Das deutschsprachige Hörbuch wurde von [[Marylu Poolman]] eingesprochen.
2020 verarbeitete [[Jenny Lecoat]], die aus Jersey stammt, die Lebensgeschichte der Hedy Bercu als Roman. Der Titel der englischen Ausgabe lautet ''Hedy’s War'', der der amerikanischen Ausgabe war ''The Girl from the Channel Islands''. Die Startauflage der US-amerikanischen Ausgabe betrug 100.000 Exemplare, das Buch gelangte auf Anhieb auf die oberen Plätze der [[w:The New York Times Best Seller list|New York Times Bestsellerliste]]. Die Kritiken waren jedoch ambivalent.<ref>Historical Novel Society: ''[https://historicalnovelsociety.org/reviews/hedys-war-uk-the-girl-from-the-channel-islands-us/ Hedy’s War (UK) / The Girl from the Channel Islands (US)]'', Issue 93, August 2020</ref><ref>Vorab Lesen: ''[https://www.vorablesen.de/buecher/die-uebersetzerin/rezensionen/tolle-reale-story-die-leider-nur-mittelmaessig-umgesetzt-wurde Tolle reale Story, die leider nur mittelmäßig umgesetzt wurde]'', 20. November 2021</ref> Das deutschsprachige Hörbuch wurde von [[w:Marylu Poolman|Marylu Poolman]] eingesprochen.


== Buch ==
== Buch ==
* [[Jenny Lecoat]]: ''Hedy’s War'', Birlinn Ltd, Mai 2020
* Jenny Lecoat: ''Hedy’s War'', Birlinn Ltd, Mai 2020
** US-amerikanische Edition: ''The Girl from the Channel Islands'', Graydon House, Februar 2021
** US-amerikanische Edition: ''The Girl from the Channel Islands'', Graydon House, Februar 2021
** Deutsche Fassung: ''Die Übersetzerin'', Bastei Lübbe, September 2021
** Deutsche Fassung: ''Die Übersetzerin'', Bastei Lübbe, September 2021
Zeile 27: Zeile 27:
== Literatur ==
== Literatur ==
* Frederick Cohen: ''The Jews in the Channel Islands During the German Occupation'', 2000
* Frederick Cohen: ''The Jews in the Channel Islands During the German Occupation'', 2000
== Einzelnachweise ==
<references />


== Weblinks ==
== Weblinks ==
{{Commonscat|Hedwig Bercu|audio=0|video=0}}
{{Commonscat|Hedwig Bercu|audio=0|video=0}}
* [https://medien-info.com/wp-content/uploads/2021/11/Nr.147.pdf Porträt von Jenny Lecoat] (mit Schwerpunkt auf Hedwig Bercu und den Roman)
* [https://medien-info.com/wp-content/uploads/2021/11/Nr.147.pdf Porträt von Jenny Lecoat] (mit Schwerpunkt auf Hedwig Bercu und den Roman)
== Einzelnachweise ==
<references />


{{SORTIERUNG:Bercu, Hedy}}
{{SORTIERUNG:Bercu, Hedy}}
 
[[Kategorie:Überlebender des Holocaust]]
[[:Kategorie:Überlebender des Holocaust]]
[[Kategorie:Österreichischer Emigrant zur Zeit des Nationalsozialismus]]
[[:Kategorie:Österreichischer Emigrant zur Zeit des Nationalsozialismus]]
[[Kategorie:Staatenloser]]
[[:Kategorie:Staatenloser]]
[[Kategorie:Deutscher]]
[[:Kategorie:Deutscher]]
[[Kategorie:Geboren 1919]]
[[:Kategorie:Geboren 1919]]
[[Kategorie:Gestorben 2009]]
[[:Kategorie:Gestorben 2009]]
[[Kategorie:Frau]]
[[:Kategorie:Frau]]
[[Kategorie:Wiki:Von Wikipedia importiert]]
 
{{Personendaten
|NAME=Bercu, Hedy
|ALTERNATIVNAMEN=Bercu, Hedwig; Goldberg, Hedwig (Geburtsname); Rümmele, Hedwig (nach Eheschließung)
|KURZBESCHREIBUNG=österreichische, später staatenlose Hausangestellte, Übersetzerin und Holocaust-Überlebende
|GEBURTSDATUM=23. Juni 1919
|GEBURTSORT=
|STERBEDATUM=2009
|STERBEORT=
}}

Navigationsmenü