Wiener Schreibpädagogik: Unterschied zwischen den Versionen

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Die '''Wiener Schreibpädagogik''' ist ein von [[Gerwalt Brandl]] entwickeltes schreibdidaktisches Konzept, das von den sprachkritischen Verfahren der literarischen [[w:Moderne|Moderne]] ([[w:Surrealismus|Surrealismus]], [[w:Dadaismus|Dadaismus]], [[w:Oulipo|Oulipo]], [[w:Wiener Gruppe|Wiener Gruppe]], [[w:James Joyce|James Joyce]], [[w:Gertrude Stein|Gertrude Stein]], [[w:Arno Schmidt|Arno Schmidt]] etc.) ausgeht.


= Wiener Schreibpädagogik =
==Geschichte==
Wiener Schreibpädagogik bezeichnet einen methodisch-didaktischen Ansatz des kreativen Schreibens, der im Lauf der 1980er und 1990er Jahre von [[Gerwalt Brandl]] und [[Christa (Christine) Brauner]] am polycollege Stöbergasse entwickelt wurde. Grundlagen der Methode sind die Verfahren der literarischen Moderne ([[Surrealismus]], [[Oulipo]], [[Wiener Gruppe]]).
Die Methoden der Wiener Schreibpädagogik wurden in den 1980er und 1990er Jahren von Gerwalt Brandl im [[w:Polycollege|polycollege]] Stöbergasse entwickelt<ref>{{Literatur |Autor=Viktor Billek, Gerwalt Brandl, Christine Brauner et.al. |Titel=Polycollege "Schreibwerkstatt Stöbergasse". Volkshochschule Margareten |Hrsg=Verband Österreichischer Volkshochschulen |Sammelwerk=Die österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung |Band= |Nummer=172 |Auflage= |Verlag= |Ort=Wien |Datum=1994 |ISBN= |Seiten=26-28 |Kommentar=Einzusehen im Österreichischen Volkshochschularchiv. http://archiv.vhs.at/vhsarchiv-home.html|Online=}}</ref>. Ab 1998 entstand daraus in Zusammenarbeit mit [[Christine Brauner|Christa Brauner]] der "Lehrgang Wiener Schreibpädagogik". Das dreisemestrige Curriculum, das von der späteren Lehrgangsleiterin [[w:Petra_Ganglbauer|Petra Ganglbauer]] erweitert und aktualisiert wurde, bildet bis heute die Grundlage der schreibpädagogischen Ausbildung - "Lehrgang Schreibpädagogik" - des Berufsverbands Österreichischer Schreibpädagog:innen BÖS<ref>{{Internetquelle |autor= |url=https://www.bös.at/wir/ |titel=BÖS. Unsere Geschichte |werk= |hrsg= |datum= |abruf=24.02.2020 |sprache=}}</ref>.


== Geschichte ==
Öffentlich in Erscheinung trat die „Schreibwerkstatt Stöbergasse“ bzw. die „Wiener Schreibpädagogik“ im Rahmen von Lesungen<ref><nowiki>https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20020927_OTS0042/alte-schmiede-anleitungen-zum-schreiben</nowiki></ref>. 2002 erschien die Anthologie „vom wortfall vom sammeln"<ref>{{Literatur |Autor= |Titel=vom wortfall vom sammeln |Hrsg=Gerwalt Brandl, Christa Brauner, Irene Wondratsch |Sammelwerk= |Band= |Nummer= |Auflage= |Verlag=Edition Volkshochschule |Ort=Wien |Datum=2002 |ISBN=3-900799-44-X |Seiten=}}</ref>, die Texte von Schreibwerkstatt-Teilnehmer:innen und die zugehörigen Schreibanimationen enthält. Im Vorwort dieser Anthologie nennt Gerwalt Brandl seine Methode erstmals „Wiener Schreibpädagogik“.


=== "Schreibwerkstatt Stöbergasse" ===
Ab 2009 initiierte Petra Ganglbauer gemeinsam mit Lehrenden anderer Institute<ref>{{Literatur|Autor=Marlen Schachinger|Titel=Werdegang. AutorInnen zwischen autodidaktischer und institutioneller Ausbildung|TitelErg=Dissertation der Universität Wien|Ort=Wien|Jahr=2012|Seiten=493}}</ref> eine Veranstaltungsreihe zur Frage, ob und wie literarisches Schreiben lehr- und lernbar ist<ref>{{Internetquelle|url=https://literaturblog-duftender-doppelpunkt.at/2009/09/25/von-schreibstuben-und-schreibschulen-ii/|titel=Von Schreibstuben und Schreibschulen|zugriff=2021-08-23}}</ref>. Die Reihe, die einen Austausch zwischen verschiedenen Schreibinstituten ermöglicht, wird in unregelmäßigen Abständen von unterschiedlichen Initiator:innen im Literaturhaus Wien fortgesetzt (zuletzt "Schul Bank Drücken" im Jänner 2020, veranstaltet von der Grazer Autorinnen Autorenversammlung [[w:Grazer_Autorinnen_Autorenversammlung|GAV]] und der Zeitschrift [[w:Perspektive_(Zeitschrift)|perspektive]].)<ref>{{Internetquelle|url=http://www.literaturhaus.at/index.php?id=205&L=0&tx_ttnews%5Btt_news%5D=3016&cHash=1c66d2bc7f4f64d1196b617ac2f0f7be|titel=Literaturhaus Wien|zugriff=2021-08-23}}</ref>
Ausgehend von einem einzigen Kurs im Jahr 1981 baute [[Gerwalt Brandl]] am [https://www.vhs.at/de/e/polycollege polycollege Stöbergasse] ein Angebot von Schreibwerkstätten und Wochenendworkshops auf, das in seiner Vielfalt in Wien einzigartig war.<ref>{{Literatur |Autor=Viktor Billek, Gerwalt Brandl, Christine Brauner et.al. |Titel=Polycollege "Schreibwerkstatt Stöbergasse". Volkshochschule Margareten |Hrsg=Verband Österreichischer Volkshochschulen |Sammelwerk=Die österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung. |Band= |Nummer=172 |Auflage= |Verlag= |Ort=Wien |Datum=1994 |ISBN= |Seiten=26-28 |Kommentar=Einsehbar im Österreichischen Volkshochschularchiv. http://archiv.vhs.at/vhsarchiv_suche.html?result=1&id=42923&count=14}}</ref>


Das Angebot umfasste wöchentlich stattfindende Schreibwerkstätten für AnfängerInnen („Schreibanimation“), Fortgeschrittene („Schreibwerkstatt“) und besonders Fortgeschrittene („Schreibgruppen“); Schreibwerkstätten für spezielle Zielgruppen (z.B. Kinder und Jugendliche, SeniorInnen, Frauen, Menschen mit nichtdeutscher Muttersprache); themenspezifische Schreibwerkstätten und Wochenendworkshops. 1996 installierte Anton Vagner eine Virtuelle Schreibwerkstatt. Als weiteres Online-Angebot gab es das „Blaue Forum“, das bis 2004 von Christa Brauner und Peter Bosch geleitet wurde.<ref>{{Literatur |Autor=Marlen Schachinger |Titel=Werdegang. AutorInnen zwischen autodidaktischer und institutioneller Ausbildung. |Hrsg= |Sammelwerk= |Band= |Nummer= |Auflage= |Verlag=Dissertation der Universität Wien. |Ort=Wien |Datum=2012 |ISBN= |Seiten=469 |Online=http://othes.univie.ac.at/19280/1/2012-03-12_8905229.pdf}}</ref>
==Die Methode==
Die Wiener Schreibpädagogik geht - in Anlehnung an die Verfahren der literarischen Moderne - nicht von inhaltlichen Vorgaben oder Themen aus. Die literarische Moderne hat das Vertrauen in die Eindeutigkeit der Sprache und in ihre Fähigkeit, die Wirklichkeit nachzubilden, verloren. Die neuen literarischen Verfahren nutzen die Sprache als Material, losgelöst von Inhalten: Sprachexperimente, Auflösung der Grenzen zu anderen Künsten ([[w:visuelle Poesie|visuelle Poesie]], [[w:Konkrete Poesie|konkrete Lyrik]], [[w:Lautgedicht|Lautgedichte]]), Hinwendung zum Unbewussten und zum Zufall.  


Die Lehrenden kamen aus unterschiedlichen Berufen, das entspricht dem interdisziplinären Ansatz der Wiener Schreibpädagogik. Sie waren AutorInnen, SchauspielerInnen, KünstlerInnen, WissenschaftlerInnen und schließlich auch AbsolventInnen des Lehrgangs Wiener Schreibpädagogik.<ref>{{Literatur |Autor=Marlen Schachinger |Titel=Werdegang. AutorInnen zwischen autodidaktischer und institutioneller Ausbildung. |Hrsg= |Sammelwerk= |Band= |Nummer= |Auflage= |Verlag= |Ort=a.a.O. |Datum= |ISBN= |Seiten=472}}</ref>
Die Schreibvorschläge (Schreibanimationen) der Wiener Schreibpädagogik leiten dazu an, Ausgangsmaterial durch Sprachspiele, freie Assoziation, [[w:automatisches Schreiben|automatisches Schreiben]] ([[w:Freewriting|Freewriting]]), Dekonstruktion des alltäglichen Sprachgebrauchs etc. zu generieren. In einem zweiten Schritt wird dieses Sprachmaterial bearbeitet, neu kombiniert, verfremdet und entweder direkt in einem Text verwendet oder es dient als Grundlage für ein freies Spiel der Fantasie, als Titel oder unausgesprochene Botschaft.  


Öffentlich in Erscheinung trat die „Schreibwerkstatt Stöbergasse“ bzw. die „Wiener Schreibpädagogik“ im Rahmen von Lesungen<ref>zum Beispiel in der Alten Schmiede Wien:
Konkrete Beispiele für Schreibanimationen, wie sie in der Wiener Schreibpädagogik verwendet werden, finden sich in der Anthologie „vom wortfall vom sammeln“<ref>{{Literatur |Autor=Brandl,Brauner,Wondratsch |Titel=vom wortfall vom sammeln |Hrsg= |Sammelwerk= |Band= |Nummer= |Auflage= |Verlag= |Ort=a.a.O. |Datum= |ISBN= |Seiten=}}</ref>, in der zweiten Nummer des "Hund im Saturn"<ref>Hund im Saturn. Zeitung des WISS - 2, Dezember 1994. (Einzusehen im Literaturhaus Wien, Bibliothek)</ref>, der Zeitschrift des nicht mehr existierenden Wiener Instituts für Schreibpädagogik und Schreibtherapie (WISS), und in den von Irene Wondratsch für die Arbeiterkammer zusammengestellten Unterrichtsunterlagen „Achtung Bissige Bytes! Kreatives Schreiben im Unterricht zum Thema Arbeitswelt“<ref>Irene Wondratsch: Achtung  bissige Bytes! Kreatives Schreiben im Unterricht zum Thema Arbeitswelt. Hrsg.: AK Wien und AK Steiermark - Arbeitswelt und Schule. Wien 1999, ISBN 3-7063-0390-6.</ref>.


<nowiki>https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20020927_OTS0042/alte-schmiede-anleitungen-zum-schreiben</nowiki></ref> und 2002 mit der Anthologie „vom wortfall vom sammeln"<ref>{{Literatur |Autor= |Titel=vom wortfall vom sammeln |Hrsg=Gerwalt Brandl, Christa Brauner, Irene Wondratsch |Sammelwerk= |Band= |Nummer= |Auflage= |Verlag=Edition Volkshochschule |Ort=Wien |Datum=2002 |ISBN=3-900799-44-X |Seiten=}}</ref>. Hier hat man den Texten der Schreibwerkstatt-TeilnehmerInnen die Schreibanimationen vorangestellt, aus denen die Texte entstanden sind. Im Vorwort dieser Anthologie taucht erstmals der Begriff „Wiener Schreibpädagogik“ auf.
Diese Art des Schreibens, das sich nicht mehr auf ein Objekt bezieht (“Ich schreibe (über) etwas“), sondern nur auf sich selbst („Ich schreibe“), nennt Gerwalt Brandl in Anlehnung an [[w:Roland Barthes|Roland Barthes]] „intransitives Schreiben“<ref>{{Literatur |Autor=Marlen Schachinger |Titel=Werdegang. AutorInnen zwischen autodidaktischer und institutioneller Ausbildung. Dissertation der Universität Wien. |Hrsg= |Sammelwerk= |Band= |Nummer= |Auflage= |Verlag= |Ort=Wien |Datum=2012 |ISBN= |Seiten=473}}</ref>.  


=== Der Lehrgang "Wiener Schreibpädagogik"<ref>{{Literatur |Autor=Marlen Schachinger |Titel=Werdegang. AutorInnen zwischen autodidaktischer und institutioneller Ausbildung. |Hrsg= |Sammelwerk= |Band= |Nummer= |Auflage= |Verlag= |Ort=a.a.O. |Datum= |ISBN= |Seiten=470ff}}</ref> ===
Damit gewährleistet die Wiener Schreibpädagogik einerseits einen niederschwelligen Zugang zum literarischen Schreiben, was für die Erwachsenenbildung und die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen sehr wichtig ist. Der 1998 ins Leben gerufene Ausbildungslehrgang Wiener Schreibpädagogik ging darüber hinaus. Er war zum einen Autor:innen-Ausbildung, andererseits befähigte er die Absolvent:innen, die aus unterschiedlichen Berufsfeldern kamen, durch die ergänzende pädagogische Ausbildung, Schreiben in einer über die Alltagssprache hinaus gehenden Form in öffentlichen und gemeinnützigen Bildungsinstitutionen zu unterrichten.  
1997 erstellten Gerwalt Brandl und Christa Brauner ein Konzept für eine 3-semestrige Ausbildung zur Schreibpädagogin/zum Schreibpädagogen. 13 TeilnehmerInnen schlossen den ersten Durchgang ab. Die Ausbildung wurde am polycollege Stöbergasse bis 2003 weitergeführt und übersiedelte danach zur „Wiener Volksbildung“.  


1999 übernahm Christa Brauner die Leitung der „Schreibwerkstatt Stöbergasse“. Sie erarbeitete ein Curriculum für ein „polycollege für angewandte Literatur und Kommunikation“ ähnlich dem Konzept für ein „Österreichisches Institut für Kreatives Schreiben“, das Josef Haslinger dem Bundeskanzleramt vorlegte. Beide Vorhaben wurden nicht umgesetzt. Stattdessen entstand 2009 das „Institut für Sprachkunst“ an der Universität für angewandte Kunst in Wien, ein Studium mit dem Schwerpunkt transmediale Literatur.
In der Ausschreibung des [[Verband Wiener Volksbildung|Verbandes Wiener Volksbildung]] aus dem Jahr 2004 wurden die Ziele des Lehrgangs Wiener Schreibpädagogik folgendermaßen definiert: „Ausbildung und Weiterentwicklung von literarischer, kommunikativer, methodischer und didaktischer Kompetenz“, „die Fähigkeit, Gruppen und Einzelne in ihrem schöpferischen Prozess zu begleiten und zu fördern, Schreibgruppen und Workshops zu leiten“ und langfristig: „Schreibpädagogik als Beruf zu installieren.<ref>Volksbildungshaus Wiener Urania, [https://adulteducation.at/de/weiterbildung/1266 Kursprogramm 2004]</ref>  
Der „Lehrgang Wiener Schreibpädagogik“ wird bis heute im 2004 gegründete Berufsverband Österreichischer SchreibpädagogInnen (BÖS) forgeführt. Basis ist das von Gerwalt Brandl und Christa Brauner entwickelte Curriculum, das laufend methodisch und didaktisch weiterentwickelt wird.<ref>{{Internetquelle |autor= |url=https://www.bös.at/wir/ |titel=BÖS. Unsere Geschichte |werk= |hrsg= |datum= |abruf=10.12.2019 |sprache=}}</ref>


== Theorie ==
Petra Ganglbauer setzte weitere Schwerpunkte im Bereich intermedialer Verfahren, lenkte die Aufmerksamkeit auf die Sprache als politisches Instrument<ref>{{Literatur |Autor=Anita C. Schaub |Titel=Die Sprache ist ein Organismus |Hrsg= |Sammelwerk=Wiener Zeitung |Band=Beilage extra |Nummer= |Auflage= |Verlag= |Ort= |Datum=2007-07-28 |ISBN= |Seiten=8}}</ref>, band zeitgenössische Autor:innen und Künstler:innen ein, die als "special guests" über ihr Schaffen Auskunft geben und in "Literatursalons" ihre Werke präsentieren<ref>{{Literatur|Titel-P=Für einen experimentellen Zugang zur Sprache.|TitelErg=Mit Petra Ganglbauer sprach Dieter Scherr|Sammelwerk=Autorensolidarität|Nummer=1 - 2|Jahr=2009|Seiten=26}}</ref>, und vertiefte die methodisch-didaktische (Selbst)Reflexion.


=== "Intransitives Schreiben" ===
Petra Ganglbauer übernahm 2008 die Leitung des "Lehrgangs Wiener Schreibpädagogik" von Christa Brauner. Es folgten [[w:Sophie_Reyer|Sophie Reyer]] und [[w:Barbara_Rieger|Barbara Rieger]] als Lehrgangsleiterinnen. 2020 kehrt Petra Ganglbauer in diese Position zurück. Seit 2023 wird der Lehrgang von [[w:Erika_Kronabitter|Erika Kronabitter]] und [https://www.ogl.at/archiv/biografien/bio/cornelia-stahl/ Cornelia Stahl] geleitet. Als Präsident des Berufsverbands Österreichischer Schreibpädagog:innen (BÖS) fungiert seit 2023 der Schriftsteller [[w:Semier_Insayif|Semier Insayif]].  
Die literarischen Vorbilder der Wiener Schreibpädagogik stammen aus der Literatur der Moderne ([[Surrealismus]], [[Oulipo]], [[Wiener Gruppe]], [[James Joyce]], [[Gertrude Stein]], [[Arno Schmidt]] etc.), die nicht (mehr) versucht, ein realistisches Abbild der Welt zu erschaffen, sondern auf den Materialaspekt der Sprache und auf Vorstellungen, die aus dem Unbewussten kommen, vertraut.  


Es zählt nicht mehr der abgeschlossene Text, dessen Bedeutung von LeserInnen, KritikerInnen, LiteraturwissenschaftlerInnen aufgespürt werden kann, sondern der Prozess des Schreibens. Dieses Schreiben, das sich nicht mehr auf ein Objekt bezieht (“Ich schreibe (über) etwas“), sondern nur auf sich selbst („Ich schreibe“), nennt Gerwalt Brandl in Anlehnung an [[Roland Barthes]] „intransitives Schreiben“.<ref>{{Literatur |Autor=Marlen Schachinger |Titel=Werdegang. AutorInnen zwischen autodidaktischer und institutioneller Ausbildung. |Hrsg= |Sammelwerk= |Band= |Nummer= |Auflage= |Verlag= |Ort=a.a.O. |Datum= |ISBN= |Seiten=473}}</ref>
2018 wurde der Lehrgang Wiener Schreibpädagogik in Lehrgang Schreibpädagogik umbenannt.


Der Schreibprozess, den die Schreibanimationen der Wiener Schreibpädagogik anstoßen, richtet sich primär nicht an ein Gegenüber, es gibt keinen Zwang, etwas mitzuteilen oder darzustellen. Schreiben ist ein selbstreflexiver Prozess, Selbsterfahrung ohne therapeutischen Anspruch. Die Sprache und das Unbewusste liefern das Material für den Schreibprozess, der keinem Mitteilungs- oder Darstellungszwang unterliegt. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Texte selbstreferenziell sind. Dadurch, dass sich das Schreiben auf das schreibende Subjekt bezieht, das in der Welt steht, findet auch die Welt ins Schreiben Eingang. Ziel der  Wiener Schreibpädagogik ist es, schreibend Ich, Welt und Sprache zu reflektieren.
==Literatur==


Petra Ganglbauer, Autorin und Schreibpädagogin, betont die zentrale Stellung der Sprache in der Wiener Schreibpädagogik. Durch das Ausloten der Regeln und Gesetzmäßigkeiten der Sprache im Schreibprozess erfahren die Schreibenden, welche Ausdrucksmöglichkeiten die Sprache besitzt, wie sie mit gesellschaftlicher Realität interagiert und wo ihre Grenzen sind.<ref>{{Literatur |Autor=Anita C. Schaub |Titel=Die Sprache ist ein Organismus |Hrsg= |Sammelwerk=Wiener Zeitung |Band=Beilage extra |Nummer= |Auflage= |Verlag= |Ort= |Datum=2007-07-28 |ISBN= |Seiten=8}}</ref>
*Viktor Billek, Gerwalt Brandl, Christine Brauner et al.: Polycollege „Schreibwerkstatt Stöbergasse“. In: Die Österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung. Heft 172. 1994, S. 26-28 .(Einzusehen im Österreichischen Volkshochschularchiv: http://archiv.vhs.at/vhsarchiv-home.html)
*Gerwalt Brandl, Christa Brauner, Irene Wondratsch (Hg.): vom wortfall vom sammeln. Literarische Arbeiten und Schreibanimationen der Schreibwerkstätten Stöbergasse 1984 - 2000. Edition Volkshochschule. Verband Wiener Volksbildung. Wien 2002, ISBN 3-900700-44-X.
*Hund im Saturn. Zeitung des WISS - 2, Dezember 1994 (Einzusehen im Literaturhaus Wien, Bibliothek).
*Marlen Schachinger: Werdegang. AutorInnen zwischen autodidaktischer und institutioneller Ausbildung. Dissertation der Universität Wien. Wien 2012 ([http://othes.univie.ac.at/19280/1/2012-03-12_8905229.pdf Online]).
*Anita C. Schaub: Die Sprache ist ein Organismus, Wiener Zeitung, 28.Juli 2007, Beil. extra. S. 8.
*Dieter Scherr: Für einen experimentellen Zugang zur Sprache. Autorensolidarität 1-2, 2009.
*Irene Wondratsch: Achtung  bissige Bytes! Kreatives Schreiben im Unterricht zum Thema Arbeitswelt. Hrsg.: AK Wien und AK Steiermark - Arbeitswelt und Schule. Wien 1999, ISBN 3-7063-0390-6.


=== Lehr- und Lernbarkeit von literarischem Schreiben ===
==Weblinks==
Die Schreibanimationen der Wiener Schreibpädagogik leiten an zu einem spielerischen Umgang mit der Sprache. Dabei geht es nicht darum, die Welt zu erklären. Inhalt und Form entstehen organisch aus dem gesammelten Material. Diese Art zu schreiben kann von jedem erlernt werden. Das bedeutet, jede/r kann schreiben im Sinn von: sich in einer über die Alltagssprache hinaus gehenden Form äußern.
* [http://archiv.vhs.at/vhsarchiv-home.html Österreichisches Volkshochschularchiv]
* [https://www.bös.at/ Das Bös-Team]
* https://www.diepresse.com/1285248/schreibhandwerk-auf-den-punkt-gebracht
* http://aws.arbeiterkammer.at/assets/uploads/Achtung_Bissige_Bytes_2010_online.pdf


=== Kunstanspruch und "Schreibwerkstattliteratur" ===
==Einzelnachweise==
Da die Wiener Schreibpädagogik im Rahmen einer Volkshochschule entwickelt wurde, entstand sowohl für die Methode als auch für die daraus entstehenden Texte ein Imageproblem. Nicht-akademischen Einrichtungen wird eine relevante Methodenentwicklung nicht zugestanden.<ref>{{Literatur |Autor=Marlen Schachinger |Titel=Werdegang. AutorInnen zwischen autodidaktischer und institutioneller Ausbildung. |Hrsg= |Sammelwerk= |Band= |Nummer= |Auflage= |Verlag= |Ort=a.a.O. |Datum= |ISBN= |Seiten=481}}</ref> Die Inflation des Adjektivs „kreativ“ tut ein Übriges. „Schreibwerkstattliteratur“ wird als künstlerisch irrelevant, Hobbykunst, Freizeitbeschäftigung abgetan.<ref>{{Literatur |Autor=Marlen Schachinger |Titel=Werdegang. AutorInnen zwischen autodidaktischer und institutioneller Ausbildung. |Hrsg= |Sammelwerk= |Band= |Nummer= |Auflage= |Verlag= |Ort=a.a.O. |Datum= |ISBN= |Seiten=483}}</ref>
 
== Praxis ==
 
=== Schreibanimationen<ref>{{Literatur |Autor= |Titel=vom wortfall vom sammeln |Hrsg=Gerwalt Brandl, Christa Brauner, Irene Wondratsch |Sammelwerk= |Band= |Nummer= |Auflage= |Verlag=Edition Volkshochschule |Ort=Wien |Datum=2002 |ISBN=3-900799-44-X |Seiten=}}</ref> ===
Anders als beim Schreiben im Alltag oder in der Schule, geht die Wiener Schreibpädagogik nicht von inhaltlichen Vorgaben oder einem Thema aus. Mit Hilfe von Schreibvorschlägen (auch Schreibanimationen genannt) generiert man in einem ersten Schritt das „Ausgangsmaterial“ durch freie Assoziation, durch Alliteration oder Reim, durch zufälliges Aufschlagen von Lexika oder Gedichtbänden, aus Redewendungen, Märchen oder Gebrauchstexten, ausgehend von Gegenständen, Fotos oder aus Gruppenschreibspielen.
In einem zweiten Schritt wird dieses Sprachmaterial bearbeitet, neu kombiniert, verfremdet. Dieses Material wird im Text entweder direkt verwendet, als Montage oder Collage, oder es dient als Grundlage für freies Spiel der Fantasie, als Titel, als unausgesprochene Botschaft.
 
=== Schreiben in der Gruppe ===
<br />
 
=== Textfeedback und Textanalyse ===
<br />
 
=== Lehrgang Wiener Schreibpädagogik - Curriculum ===
 
 
 
 
 
 
== Einzelnachweise ==
<references />
<references />


== Literatur ==
[[Kategorie:Schreiben]]
 
[[Kategorie:Pädagogische Methode/Lehre]]
 
[[Kategorie:ÖsterreichWiki:Von Wikipedia importiert]]
== Weblinks ==

Aktuelle Version vom 21. Oktober 2024, 09:02 Uhr

Die Wiener Schreibpädagogik ist ein von Gerwalt Brandl entwickeltes schreibdidaktisches Konzept, das von den sprachkritischen Verfahren der literarischen Moderne (Surrealismus, Dadaismus, Oulipo, Wiener Gruppe, James Joyce, Gertrude Stein, Arno Schmidt etc.) ausgeht.

Geschichte

Die Methoden der Wiener Schreibpädagogik wurden in den 1980er und 1990er Jahren von Gerwalt Brandl im polycollege Stöbergasse entwickelt[1]. Ab 1998 entstand daraus in Zusammenarbeit mit Christa Brauner der "Lehrgang Wiener Schreibpädagogik". Das dreisemestrige Curriculum, das von der späteren Lehrgangsleiterin Petra Ganglbauer erweitert und aktualisiert wurde, bildet bis heute die Grundlage der schreibpädagogischen Ausbildung - "Lehrgang Schreibpädagogik" - des Berufsverbands Österreichischer Schreibpädagog:innen BÖS[2].

Öffentlich in Erscheinung trat die „Schreibwerkstatt Stöbergasse“ bzw. die „Wiener Schreibpädagogik“ im Rahmen von Lesungen[3]. 2002 erschien die Anthologie „vom wortfall vom sammeln"[4], die Texte von Schreibwerkstatt-Teilnehmer:innen und die zugehörigen Schreibanimationen enthält. Im Vorwort dieser Anthologie nennt Gerwalt Brandl seine Methode erstmals „Wiener Schreibpädagogik“.

Ab 2009 initiierte Petra Ganglbauer gemeinsam mit Lehrenden anderer Institute[5] eine Veranstaltungsreihe zur Frage, ob und wie literarisches Schreiben lehr- und lernbar ist[6]. Die Reihe, die einen Austausch zwischen verschiedenen Schreibinstituten ermöglicht, wird in unregelmäßigen Abständen von unterschiedlichen Initiator:innen im Literaturhaus Wien fortgesetzt (zuletzt "Schul Bank Drücken" im Jänner 2020, veranstaltet von der Grazer Autorinnen Autorenversammlung GAV und der Zeitschrift perspektive.)[7]

Die Methode

Die Wiener Schreibpädagogik geht - in Anlehnung an die Verfahren der literarischen Moderne - nicht von inhaltlichen Vorgaben oder Themen aus. Die literarische Moderne hat das Vertrauen in die Eindeutigkeit der Sprache und in ihre Fähigkeit, die Wirklichkeit nachzubilden, verloren. Die neuen literarischen Verfahren nutzen die Sprache als Material, losgelöst von Inhalten: Sprachexperimente, Auflösung der Grenzen zu anderen Künsten (visuelle Poesie, konkrete Lyrik, Lautgedichte), Hinwendung zum Unbewussten und zum Zufall.

Die Schreibvorschläge (Schreibanimationen) der Wiener Schreibpädagogik leiten dazu an, Ausgangsmaterial durch Sprachspiele, freie Assoziation, automatisches Schreiben (Freewriting), Dekonstruktion des alltäglichen Sprachgebrauchs etc. zu generieren. In einem zweiten Schritt wird dieses Sprachmaterial bearbeitet, neu kombiniert, verfremdet und entweder direkt in einem Text verwendet oder es dient als Grundlage für ein freies Spiel der Fantasie, als Titel oder unausgesprochene Botschaft.

Konkrete Beispiele für Schreibanimationen, wie sie in der Wiener Schreibpädagogik verwendet werden, finden sich in der Anthologie „vom wortfall vom sammeln“[8], in der zweiten Nummer des "Hund im Saturn"[9], der Zeitschrift des nicht mehr existierenden Wiener Instituts für Schreibpädagogik und Schreibtherapie (WISS), und in den von Irene Wondratsch für die Arbeiterkammer zusammengestellten Unterrichtsunterlagen „Achtung Bissige Bytes! Kreatives Schreiben im Unterricht zum Thema Arbeitswelt“[10].

Diese Art des Schreibens, das sich nicht mehr auf ein Objekt bezieht (“Ich schreibe (über) etwas“), sondern nur auf sich selbst („Ich schreibe“), nennt Gerwalt Brandl in Anlehnung an Roland Barthes „intransitives Schreiben“[11].

Damit gewährleistet die Wiener Schreibpädagogik einerseits einen niederschwelligen Zugang zum literarischen Schreiben, was für die Erwachsenenbildung und die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen sehr wichtig ist. Der 1998 ins Leben gerufene Ausbildungslehrgang Wiener Schreibpädagogik ging darüber hinaus. Er war zum einen Autor:innen-Ausbildung, andererseits befähigte er die Absolvent:innen, die aus unterschiedlichen Berufsfeldern kamen, durch die ergänzende pädagogische Ausbildung, Schreiben in einer über die Alltagssprache hinaus gehenden Form in öffentlichen und gemeinnützigen Bildungsinstitutionen zu unterrichten.

In der Ausschreibung des Verbandes Wiener Volksbildung aus dem Jahr 2004 wurden die Ziele des Lehrgangs Wiener Schreibpädagogik folgendermaßen definiert: „Ausbildung und Weiterentwicklung von literarischer, kommunikativer, methodischer und didaktischer Kompetenz“, „die Fähigkeit, Gruppen und Einzelne in ihrem schöpferischen Prozess zu begleiten und zu fördern, Schreibgruppen und Workshops zu leiten“ und langfristig: „Schreibpädagogik als Beruf zu installieren.“[12]

Petra Ganglbauer setzte weitere Schwerpunkte im Bereich intermedialer Verfahren, lenkte die Aufmerksamkeit auf die Sprache als politisches Instrument[13], band zeitgenössische Autor:innen und Künstler:innen ein, die als "special guests" über ihr Schaffen Auskunft geben und in "Literatursalons" ihre Werke präsentieren[14], und vertiefte die methodisch-didaktische (Selbst)Reflexion.

Petra Ganglbauer übernahm 2008 die Leitung des "Lehrgangs Wiener Schreibpädagogik" von Christa Brauner. Es folgten Sophie Reyer und Barbara Rieger als Lehrgangsleiterinnen. 2020 kehrt Petra Ganglbauer in diese Position zurück. Seit 2023 wird der Lehrgang von Erika Kronabitter und Cornelia Stahl geleitet. Als Präsident des Berufsverbands Österreichischer Schreibpädagog:innen (BÖS) fungiert seit 2023 der Schriftsteller Semier Insayif.

2018 wurde der Lehrgang Wiener Schreibpädagogik in Lehrgang Schreibpädagogik umbenannt.

Literatur

  • Viktor Billek, Gerwalt Brandl, Christine Brauner et al.: Polycollege „Schreibwerkstatt Stöbergasse“. In: Die Österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung. Heft 172. 1994, S. 26-28 .(Einzusehen im Österreichischen Volkshochschularchiv: http://archiv.vhs.at/vhsarchiv-home.html)
  • Gerwalt Brandl, Christa Brauner, Irene Wondratsch (Hg.): vom wortfall vom sammeln. Literarische Arbeiten und Schreibanimationen der Schreibwerkstätten Stöbergasse 1984 - 2000. Edition Volkshochschule. Verband Wiener Volksbildung. Wien 2002, ISBN 3-900700-44-X.
  • Hund im Saturn. Zeitung des WISS - 2, Dezember 1994 (Einzusehen im Literaturhaus Wien, Bibliothek).
  • Marlen Schachinger: Werdegang. AutorInnen zwischen autodidaktischer und institutioneller Ausbildung. Dissertation der Universität Wien. Wien 2012 (Online).
  • Anita C. Schaub: Die Sprache ist ein Organismus, Wiener Zeitung, 28.Juli 2007, Beil. extra. S. 8.
  • Dieter Scherr: Für einen experimentellen Zugang zur Sprache. Autorensolidarität 1-2, 2009.
  • Irene Wondratsch: Achtung  bissige Bytes! Kreatives Schreiben im Unterricht zum Thema Arbeitswelt. Hrsg.: AK Wien und AK Steiermark - Arbeitswelt und Schule. Wien 1999, ISBN 3-7063-0390-6.

Weblinks

Einzelnachweise

  1.  Viktor Billek, Gerwalt Brandl, Christine Brauner et.al.: Polycollege "Schreibwerkstatt Stöbergasse". Volkshochschule Margareten. In: Die österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung. Nr. 172, Wien 1994, S. 26-28 (Einzusehen im Österreichischen Volkshochschularchiv. http://archiv.vhs.at/vhsarchiv-home.html).
  2. BÖS. Unsere Geschichte. Abgerufen am 24.02.
  3. https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20020927_OTS0042/alte-schmiede-anleitungen-zum-schreiben
  4.  vom wortfall vom sammeln. Edition Volkshochschule, Wien 2002, ISBN 3-900799-44-X.
  5.  Marlen Schachinger: Werdegang. AutorInnen zwischen autodidaktischer und institutioneller Ausbildung. Dissertation der Universität Wien. Wien 2012, S. 493.
  6. Von Schreibstuben und Schreibschulen. Abgerufen am 23. August 2021.
  7. Literaturhaus Wien. Abgerufen am 23. August 2021.
  8.  Brandl,Brauner,Wondratsch: vom wortfall vom sammeln. a.a.O..
  9. Hund im Saturn. Zeitung des WISS - 2, Dezember 1994. (Einzusehen im Literaturhaus Wien, Bibliothek)
  10. Irene Wondratsch: Achtung  bissige Bytes! Kreatives Schreiben im Unterricht zum Thema Arbeitswelt. Hrsg.: AK Wien und AK Steiermark - Arbeitswelt und Schule. Wien 1999, ISBN 3-7063-0390-6.
  11.  Marlen Schachinger: Werdegang. AutorInnen zwischen autodidaktischer und institutioneller Ausbildung. Dissertation der Universität Wien.. Wien 2012, S. 473.
  12. Volksbildungshaus Wiener Urania, Kursprogramm 2004
  13.  Anita C. Schaub: Die Sprache ist ein Organismus. In: Wiener Zeitung. Beilage extra, 28. Juli 2007, S. 8.
  14.  Für einen experimentellen Zugang zur Sprache. Mit Petra Ganglbauer sprach Dieter Scherr. In: Autorensolidarität. Nr. 1 - 2, 2009, S. 26.