Sicherungseinsatz des Bundesheeres während der Ungarnkrise 1956: Unterschied zwischen den Versionen

K
Zeile 143: Zeile 143:


=== Montag, 5. November 1956 ===
=== Montag, 5. November 1956 ===
An diesem Tag verschärfte sich die Lage sowohl in Österreich als auch in Ägypten weiter, wo nun Großbritannien und Frankreich [[w:Fallschirmjäger|Fallschirmjäger]] einsetzten, um den [[w:Suezkanal|Suezkanal]] zu besetzten. Die Sowjetunion drohte nun beiden Ländern mit der Anwendung von Gewalt um die Aggressoren zu vernichten. Parteichef [[w:Nikita Sergejewitsch Chruschtschow|Chruschtschow]] sprach sogar von der – militärisch nicht verwirklichbaren – Zerstörung der westlichen Hauptstädte mit Atomwaffen.
An diesem Tag verschärfte sich die Lage sowohl in Österreich als auch in Ägypten weiter. Großbritannien und Frankreich setzten sogar [[w:Fallschirmjäger|Fallschirmjäger]] ein, um den [[w:Suezkanal|Suezkanal]] zu besetzten. Die Sowjetunion drohte nun beiden Ländern mit der Anwendung von Gewalt um die Aggressoren zu vernichten. Parteichef [[w:Nikita Sergejewitsch Chruschtschow|Chruschtschow]] sprach sogar von der – militärisch nicht verwirklichbaren – Zerstörung der westlichen Hauptstädte mit Atomwaffen.


In Österreich traten in den Morgenstunden des 5. November allein im Bereich der Gruppe I 230 ungarische Militärpersonen über die Grenze. Bis zum Abend belegten bereits 577 Internierte das Lager von Klosterneuburg. Insgesamt waren bis zu diesem Zeitpunkt bereits rund 10.000 Personen bereits nach Österreich geflüchtet. Im Laufe des Tages erreichten und besetzten die Einheiten der Roten Armee die gesamte Grenze zu Österreich. Fremde Flugzeuge drangen in den österreichischen Luftraum ein ohne dass irgendwelche Gegenmaßnahmen hätten unternommen werden können.
In Österreich traten in den Morgenstunden des 5. November allein im Bereich der Gruppe I 230 ungarische Militärpersonen über die Grenze. Bis zum Abend belegten bereits 577 Internierte das Lager von Klosterneuburg. Insgesamt waren bis zu diesem Zeitpunkt bereits rund 10.000 Personen nach Österreich geflüchtet. Im Laufe des Tages besetzten die Einheiten der Roten Armee die gesamte Grenze zu Österreich. Fremde Flugzeuge drangen in den österreichischen Luftraum ein, ohne dass irgendwelche Gegenmaßnahmen hätten unternommen werden können.


In Wien brach unter der Bevölkerung Kriegspanik aus und es kam zu [[w:Hortung|Hamsterkäufen]] bei Grundnahrungsmitteln und Tollieteartikeln.
In Wien brach unter der Bevölkerung Kriegspanik aus und es kam zu [[w:Hortung|Hamsterkäufen]] bei Grundnahrungsmitteln und Tollieteartikeln.
Zeile 161: Zeile 161:


Als Reserven standen die 5. und 8. Brigade bereit, die bereits seit 3. November geheim Vormarschstraßen nach Ostösterreich erkundeten. Die 8. Brigade litt aber unter einem großen Mangel an Transportfahrzeugen.  
Als Reserven standen die 5. und 8. Brigade bereit, die bereits seit 3. November geheim Vormarschstraßen nach Ostösterreich erkundeten. Die 8. Brigade litt aber unter einem großen Mangel an Transportfahrzeugen.  
Dies war wohl auch die Triebfeder des Handelns des GTI, der in dieser Situation mit seinen Anordnungen seine Befugnisse bei weitem überschritt, als er befahl, dass die Brücken über die Donau (Tulln, Krems, Persenbeug, Mauthausen, Steyregg, Linz - die Rollfähren über die Donau sollten unbrauchbar gemacht werden) konkret zur Sprengung vorzubereiten seien, was auch durchgeführt wurde! Major Pribil, der Kommandant des Heerspionierbataillons 1, wurde am Abend des 5.11. nach Wien befohlen und erhielt im BMLV einen persönlichen und handgeschriebenen Befehl des GTI ausgefolgt mit dem Auftrag, die Donaubrücken noch in der Nacht zur Sprengung vorzubereiten. Major Pribil setzte diesen Befehl in weiterer Folge nach Punkt und Beistrich um!(FN38)


==== Rückzugsbefehl auf Verteidigungsstellungen ====
==== Rückzugsbefehl auf Verteidigungsstellungen ====
Die Entwicklungen in Ungarn und am Suezkanal führten nun dazu, dass selbst die USA nun einen Krieg in Mitteleuropa nicht mehr ausschlossen, wie Bundesminister Graf bei einem Besuch des amerikanischen Verteidigungsattache erfuhr. Er beauftragte daher den Generaltruppeninspektor zur Planung und Vorbereitung von Gegenmaßnahmen. Oberst Fussenegger ordnete die Bildung eines Führungsstabes an, der die Funktion eines Armeekommandos erfüllen sollte. Es wurde weiters ein weitreichender Operationsbefehl erstellt, der den Rückzug der österreichischen Einheiten auf Verteidigungsstellungen wie die Eisenstädter oder Wiener Neustädter Pforte befahl. Rund um diesen Befehl gab es Diskussionen, weil sie nicht vom Minister
Die Entwicklungen in Ungarn und am Suezkanal führten dazu, dass selbst die USA nun einen Krieg in Mitteleuropa nicht mehr ausschlossen, wie Bundesminister Graf bei einem Besuch des amerikanischen Verteidigungsattache erfuhr. Er beauftragte daher den Generaltruppeninspektor zur Planung und Vorbereitung von Gegenmaßnahmen. Oberst Fussenegger ordnete die Bildung eines Führungsstabes an, der die Funktion eines Armeekommandos erfüllen sollte. Es wurde weiters ein weitreichender Operationsbefehl erstellt, der den Rückzug der österreichischen Einheiten auf Verteidigungsstellungen wie die Eisenstädter oder Wiener Neustädter Pforte befahl. Rund um diesen Befehl gab es zwischen Verteidigungsminister und Generaltruppeninspektor heftige  Diskussionen, weil diese weitreichenden Maßnahmen nicht vom Ministerrat abgesegnet waren, obwohl es am Vormittag eine Regierungssitzung gegeben hatte. Die befohlenen Maßnahmen wurden daher als ''Nachtmarschübung'' bezeichnet, wobei das kriegserfahrene Kaderpersonal natürlich sofort erkannte, dass mit dem schlimmsten zu rechnen sei.
 
 
Am Ende der Beratungen mit Leeb und Bach stand ein Operationsbefehl, der die erforderlichen Verteidigungsmaßnahmen aus militärischer Sicht darlegte. Minister Graf stimmte zwar vorerst diesem Operationsbefehl zu, doch festigte sich später die Auffassung, dass ohne Befassung des Landesverteidigungsrates und der Bundesregierung eine solche weit reichende Entscheidung wie dieser Befehl nicht machbar wäre. Erst am Vortag war ja die Bundesregierung zu einer außerordentlichen Sitzung zusammengetreten, um über die Lage zu beraten. Hier war aber über eine bedrohliche Verschärfung der Lage, die weitere militärische Maßnahmen erforderlich machen könnte, nicht gesprochen worden und daher auch nicht über eine allfällige Ermächtigung für den BM, Verteidigungsmaßnahmen einzuleiten. Dennoch unterschrieb Graf am späten Nachmittag vorerst den Einsatzbefehl für das Bundesheer, der um 18:00 Uhr an die Gruppenkommanden übermittelt wurde. Noch am Abend wollte Bundesminister Graf den Befehl wieder zurückgenommen wissen, ließ sich aber überzeugen, ihn doch auszuführen. Die militärische Führung musste jedoch die Rücknahme des Befehles an die Gruppe III zur Verlegung in den Einsatzraum zur Kenntnis nehmen. Sie verblieb in ihren Garnisonen. Alle anderen Verlegungen erfolgten dann als so genannte "Nachtmarschübung".
 
Der Weisung zufolge sollten in der Nacht zum 6. November die Kräfte auf die allgemeine Linie Sauerbrunn - Großhöflein, Bruck a.d. Leitha - Petronell zurückgenommen werden und dort eine stützpunktartige Verteidigung vorbereitet werden; weiters sollte hinhaltend kämpfend vorerst auf die Wienerwaldeingänge und weiter in den Raum St. Pölten zurückgegangen werden. Die Gruppe II sollte mit der 5. Gebirgsbrigade stützpunktartig die Linie Fehring-Fürstenfeld-Markt Allhau besetzen, vor überlegenem Gegner hinhaltend kämpfend in die Graz-Schutzstellung zurückgehen, die Gruppe III im Raum Linz - Enns - Steyr führen sowie die Donau-Brücken außerhalb Wiens zur Sprengung vorbereitet werden. Die Gruppe III hatte im Falle der Verhinderung des Führungsstabes/BMLV die operative Führung zu übernehmen und die Truppen ihre Kasernen in der Nacht zu verlassen und garnisonsnahe Verfügungsräume zu beziehen, um nicht Ziele für Fliegerangriffe zu bieten. Im unmittelbaren Grenzraum sollten lediglich die bislang eingesetzten Panzeraufklärungskräfte sowie einzelne motorisierte Spähtrupps verbleiben. Für den Kommandostab wurde eine Kraftfahrstaffel bereitgestellt, mit der vom Ministerium weg in die Tiefe des Raumes verlegt werden sollte, wobei vorerst an den Raum St. Pölten gedacht war, da man dort die militärische Infrastruktur nützen wollte.(FN37) Im Fall eines Angriffes erhielt damit die Gruppe I den Auftrag, mit ihren Kräften einen hinhaltenden Kampf aus den Pforten (gemeint sind die Hainburger Pforte, die Brucker Pforte und die Eisenstädter Pforte) zurück bis an die Wienerwald-Eingänge und eine so genannte "Wienerwald-Schutzstellung" zu führen und sich in dieser zur Verteidigung einzurichten. Diese Wienerwald-Stellung existierte jedoch lediglich als Begriff. Es waren keinerlei Vorbereitungen erfolgt, auch Erkundungen hatten nicht stattgefunden. Immerhin übte ein Alarmzug der Artillerieschule im Helenental die bewegliche Panzerabwehr mit schweren Feldhaubitzen.


Die Kräfte der Gruppe II sollten vorerst stützpunktartig im Raum Fehring und an den Lafnitz-Übergängen zum Einsatz kommen, im Falle eines Angriffes jedoch auf die so genannte "Graz-Schutzstellung" zurückgehen und sich in der Linie Wildon-Hausmannstätten - Raum südlich von Rinnegg zur Verteidigung einrichten. In das Mur- und Mürztal wollte man parallel dazu Aufklärungstruppen schieben.
Den Bundesheereinheiten der Gruppe I wurde befohlen auf die allgemeine Linie [[Sauerbrunn]] - [[Großhöflein]], Bruck an der Leitha - [[Petronell]] zurückzugehen, um dort eine stützpunktartige Verteidigung vorzubereiten. Bei einem Angriff sollten sich die Einheiten hinhaltend kämpfend weiter auf die Wienerwaldeingänge und dann in den Raum St. Pölten zurückziehen.  


Weder der Gruppe I noch der Gruppe II wäre es vermutlich gelungen, den gestellten Auftrag zu erfüllen. Vielleicht wäre es möglich gewesen, örtlich begrenzt und kurzfristig die Bewegungslinien und deren Angelände zu sperren, ohne dadurch aber einen selbst auch nur kurzen Abwehrerfolg erringen zu können.
Bei der Gruppe II sollte die 5. Gebirgsbrigade stützpunktartig die Linie [[Fehring]] - Fürstenfeld - [[Markt Allhau]] besetzen, und dann weiter  hinhaltend kämpfend in die ''Graz-Schutzstellung'' zurückgehen und sich in der Linie [[Wildon]] - [[Hausmannstätten]] - Raum südlich von [[Sankt Radegund bei Graz]] zur Verteidigung einrichten.  


Den Soldaten, voran den Offizieren, die großteils kriegsgedient waren, schien die Lage klar: Aus dem bisherigen Sicherungseinsatz war plötzlich eine konkrete Bedrohung Österreichs geworden. Allen war bewusst, dass im Fall eines Angriffes keine Erfolgsaussicht bestand und daher die beabsichtigte Kampfführung in einem Desaster enden musste. Noch immer bestanden nämlich gravierende Mängel der Einsatztauglichkeit von Soldat und Material.
Die Diskussionen um die Legitimation des Befehles führte dazu, dass die Gruppen I und II die Anordnung für die Verlegung erhielten, während die Einheiten der Gruppe III in den Garnisonen verblieben.


Dass eine staatspolitisch wichtige Aufgabe zu erfüllen war, hatten aber alle Beteiligten erkannt, und v.a. den Offizieren war bewusst, dass Ereignisse wie jene im März 1938 nie mehr wieder passieren dürften. Dies war wohl auch die Triebfeder des Handelns des GTI, der in dieser Situation mit seinen Anordnungen seine Befugnisse bei weitem überschritt, als er befahl, dass die Brücken über die Donau (Tulln, Krems, Persenbeug, Mauthausen, Steyregg, Linz - die Rollfähren über die Donau sollten unbrauchbar gemacht werden) konkret zur Sprengung vorzubereiten seien, was auch durchgeführt wurde! Major Pribil, der Kommandant des Heerspionierbataillons 1, wurde am Abend des 5.11. nach Wien befohlen und erhielt im BMLV einen persönlichen und handgeschriebenen Befehl des GTI ausgefolgt mit dem Auftrag, die Donaubrücken noch in der Nacht zur Sprengung vorzubereiten. Major Pribil setzte diesen Befehl in weiterer Folge nach Punkt und Beistrich um!(FN38) Oberst Fussenegger bewies in dieser Situation großen Mut zum Risiko und übernahm mit seinen Entscheidungen nicht nur die militärische Verantwortung, sondern wohl auch eine politische, die vielleicht bis heute nicht ausreichend gewürdigt worden ist. Er setzte durch, die Bedrohung so ernst zu nehmen, dass ihr militärisch entgegengetreten werden konnte, und stellte dadurch sicher, dass Österreich tatsächlich glaubwürdig als Opfer einer militärischen Aggression bezeichnet hätte werden können.


Bei strömendem Regen verlegten die eingesetzten Kräfte in die befohlenen Einsatzräume. Stellungen und Stützpunkte wurden gegraben, schwere Waffen getarnt, die Munition hiefür bereitgelegt. Lediglich die Panzeraufklärungskompanien verblieben als "Schleier" an der Grenze. Die eingerückten Jungmänner verlegten auftragsgemäß aus den Kasernen in garnisonsnahe Verfügungsräume, um nicht Ziel von Luftangriffen zu werden. Später verlegten sie überhaupt auf Übungsplätze in der Tiefe.
Bei strömendem Regen verlegten die eingesetzten Kräfte in die befohlenen Einsatzräume. Stellungen und Stützpunkte wurden gegraben, schwere Waffen getarnt, die Munition hiefür bereitgelegt. Lediglich die Panzeraufklärungskompanien verblieben als "Schleier" an der Grenze. Die eingerückten Jungmänner verlegten auftragsgemäß aus den Kasernen in garnisonsnahe Verfügungsräume, um nicht Ziel von Luftangriffen zu werden. Später verlegten sie überhaupt auf Übungsplätze in der Tiefe.
9.493

Bearbeitungen