Sicherungseinsatz des Bundesheeres während der Ungarnkrise 1956: Unterschied zwischen den Versionen

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=== Aktionen bis zum Jahresende ===
=== Aktionen bis zum Jahresende ===
Der Flüchtlingsstrom wuchs nun beständig, und das Schwergewicht der Führungsaufgaben verlagerte sich in den Bereich der Organisation der Unterstützung für die Exekutive, die diese Massen von Flüchtlingen nicht mehr bewältigen konnte. Ein Brennpunkt des Geschehens lag dabei im Bereich des Seewinkels am Einserkanal im Raum Andau. Mehr und mehr Menschen flüchteten dort während der Nachtstunden. Am Höhepunkt der Flüchtlingswelle überschritten in einer Nacht (18. auf 19. November) über 2.000 Personen den Einserkanal bei Andau.
[[Datei:Brücke von Andau Detail.jpg|Die 1996 wieder errichtete Brücke von Andau.]]
[[Datei:Brücke von Andau Durchsicht.jpg|Etwa 70.000 Personen überquerten hier den [[w:Einser-Kanal|Einser-Kanal]].]]
Da der sowjetische Angriff ausgeblieben war, galt es nun den zivilen Organisationen bei der Bewältigung des Flüchtlingsstromes zu helfen. Vor allem im [[w:Seewinkel|Seewinkel]] überschritten viele Ungarn die Grenze zu Österreich. So kamen allein in der Nacht vom 18. auf den 19. November 2.000 Personen über die [[w:Brücke von Andau|Brücke von Andau]] ins Burgenland.


Das Bundesheer befragte geflüchtete und für die Beurteilung der Lage interessante Militärpersonen, entwaffnete und internierte sie. Noch am 6. November hatte das BMLV die Verlegung im Eisenbahntransport unter Bewachung von rund 660 Internierten und deren Familien von Klosterneuburg nach Wals-Siezenheim angeordnet. Zutiefst österreichisch, durften die Familien bei ihren internierten Männern verbleiben. Da die Flüchtlingszahl insgesamt jedoch rasant anstieg, mussten auch noch die verbliebenen 700 Internierten nach Siezenheim verlegt werden, um in Klosterneuburg Platz für neu ankommende Flüchtlinge zu schaffen. Die für den Betrieb des Internierungslagers geschaffenen Regelungen klangen verhältnismäßig einfach: "Das Verlassen des Lagers ist verboten. Infolge der Ausnahme von Artikel 92 ist für Fluchtversuche wohl die Waffenanwendung anzudrohen, die Anwendung eines gezielten Schusses zur Verhinderung eines Fluchtversuches jedoch nur dann erlaubt, wenn der Fluchtversuch in Verbindung mit strafrechtlich zu ahndenden Handlungen steht; sonst sind nur Warnschüsse abzugeben." (FN39) Später, als auch den Ungarn klar geworden war, dass übertretende Soldaten in Österreich erneut hinter Gittern verschwanden, kamen verschiedentlich Soldaten als "Studenten" nach Österreich, um so der Internierung zu entgehen.
Obwohl die weltpolitische Lage noch immer sehr unsicher war, so bereiteten die USA in diesen Tagen eine Teilmobilmachung vor, entwickelte sich bei den Bundesheereinheiten schön langsam ein Routinebetrieb. Erste Truppenteile, wie die Alarmkompanien der Militärakademie am 12. November, wurden in ihre Heimatgarnisonen verlegt. Durch Heranziehen, der nun besser ausgebildeten Rekruten des Einrückungstermines 15. Oktober, begann man die Alarmkompanien in Orgplan-mäßige Einheiten umzuwandeln. Trotzdem war der Gefechtswert vieler Einheiten noch sehr geringen. So fehlte unter anderem den Rekruten das Tragegerüst für das Sturmgepäck oder es Probleme bei der Verlegung von Panzereinheiten.


Die Verteidigungsvorbereitungen blieben aufrecht, schon allein, weil immer wieder Besorgnis erregende Informationen einlangten. Die USA bereiteten eine Teilmobilmachung vor, was offensichtlich bedeutete, dass sich die weltpolitische Lage bei weitem noch nicht beruhigt hatte; auch aus der CSSR kamen immer wieder widersprüchliche Informationen. Schon am 5. November hatte die Grenzschutzabteilung den Auftrag erhalten, unter Einbeziehung des Pioniertruppeninspektors Sperrvorbereitungen an den Hauptbewegungslinien zwischen der ungarischen Grenze und Wien bis zur Enns, der ungarischen Grenze bis zur Pack und Graz sowie an den Donaubrücken vorzunehmen. Die militärische Führung ordnete an, die Erkundungen in Zivilkleidung durchzuführen, um die Bevölkerung nicht zu beunruhigen.
Der Generaltruppeninspektor sah sich gezwungen ein [[w:Memorandum|Memorandum]] zu verfassen, in dem er die Feststellung traf, dass mit den derzeitigen Kräften weder der Schutz der Zivilbevölkerung noch eine Verteidigung möglich sei. Er stellte daher folgende Forderungen auf:
 
* Einberufung von Kader für Neuaufstellungen
Abseits davon entwickelte sich für die Truppe nun langsam ein gewisser Routinebetrieb, und man ging sogar daran, die ersten Truppenteile aus dem Dispositiv herauszulösen und in die Heimatgarnisonen zurückzuverlegen. So rückten am 12. November die Alarmkompanien der Militärakademie wieder nach Enns ein. Nun erfolgte auch langsam die Umgliederung der Alarmkompanien in Orgplan-mäßige Kompanien, indem sie mit Rekruten des Einrückungstermins 15. Oktober aufgefüllt wurden.
* Überstellung 2.000 ehemalig Kriegsgedienter oder ehemaliger Angehöriger der B-Gendarmerie in das Bundesheer
 
* Genehmigung zur Anwendung des Reichsleistungsgesetzes
Der Einsatzwert der Truppe war in Teilbereichen nach wie vor äußerst gering. Von den verfügbaren Panzern konnte so mancher nur bewegt, nicht aber ins Gefecht geführt werden, und den für eine Verlegung vorgesehenen Jungmännern fehlte zum Sturmgepäck das Tragegerüst.
* Veranlassung der schnellsten Lieferung von Waffen, Munition und Gerät
 
* Beginn der Anlage von Feldbefestigungen und Sperren in den meistbedrohten Abschnitten
In einem Memorandum deponierte der GTI seine großen Sorgen, indem er in acht Punkten Folgendes feststellte: Mit den derzeitigen Kräften ist eine Verteidigung nicht möglich und auch kein Schutz der Zivilbevölkerung.
* Zusammentritt einer interministeriellen Kommission für Zivilschutz
 
* Vereinbarung mit der Bundespolizeidirektion Wien und der Sicherheitsdirektion NÖ für die Steuerung der Flüchtlingsströme
Anträge aus diesem Grund sind: - Einberufung von Kader für Neuaufstellungen; - Überstellung 2.000 ehemalig Kriegsgedienter oder ehemaliger Angehöriger der B-Gendarmerie in das Bundesheer; - Genehmigung zur Anwendung des Reichsleistungsgesetzes; - Veranlassung der schnellsten Lieferung von Waffen, Munition und Gerät; - Beginn der Anlage von Feldbefestigungen und Sperren in den meistbedrohten Abschnitten; - Zusammentritt einer interministeriellen Kommission für Zivilschutz; - Vereinbarung mit der Bundespolizeidirektion Wien und der Sicherheitsdirektion NÖ für die Steuerung der Flüchtlingsströme; - Aufklärung der Zivilbevölkerung über die Notwendigkeiten der vorbereitenden Maßnahmen der militärischen Landesverteidigung.
* Aufklärung der Zivilbevölkerung über die Notwendigkeiten der vorbereitenden Maßnahmen der militärischen Landesverteidigung.


Seine Wünsche fanden jedenfalls keinen Anklang und versandeten, wie vieles andere auch.
Seine Wünsche fanden jedenfalls keinen Anklang und versandeten, wie vieles andere auch.


Am 21. November sprengten die Ungarn die mittlerweile zum Symbol der Freiheit gewordene Brücke von Andau über den Einserkanal, wodurch der Weg in den Westen deutlich schwieriger wurde.
Am 21. November sprengten ungarische Soldaten die Brücke bei Andau über den Einser-Kanal. Zwei Tage später wurde auf österreichischer Seite der Bundesheereinsatz weiter zurückgefahren, in dem die Brigadenkommanden 1, 3 und 5 in ihre Heimatstandorte zurückverlegt wurden.  
 
Während am 23. November eine weitere Reduzierung des Sicherungseinsatzes angeordnet wurde und die Kommanden der 1. Jägerbrigade von Wr. Neustadt nach Eisenstadt, der 2. Jägerbrigade von Bruck a.d. Leitha nach Wien und die 5. Gebirgsbrigade von Fürstenfeld nach Graz zurückverlegten, ereignete sich bei Rechnitz der schwerste Zwischenfall des gesamten Einsatzes. Drei russische Soldaten verfolgten Flüchtlinge bis auf österreichischen Boden, bedrohten eine österreichische Zollwachpatrouille, die einschreiten wollte, und gaben Schüsse ab. Die Russen versuchten, ein junges Mädchen zu berauben und zu vergewaltigen, als die Soldaten von einer zufällig vorbeikommenden Gendarmeriepatrouille gestellt und angerufen wurden. Während ein Soldat verhaftet werden konnte, flüchteten die beiden anderen Richtung Grenze. Trotz wiederholter "Halt"-Rufe reagierten die Soldaten nicht. Mehrere Schüsse fielen und einer der Flüchtigen stürzte, von einem Bauchschuss getroffen, zu Boden. Er verstarb noch während des Transportes in das Krankenhaus von Oberwart; der andere entkam. Die Sicherheitsdirektion alarmierte daraufhin das Bundesheer, und das Infanteriebataillon 2 erhielt den Auftrag, einen verstärkten Infanteriezug unter Kommando des Hauptmanns Dr. Truxa nach Rechnitz zu verlegen, um die nervöse Bevölkerung zu beruhigen und vor nun möglich scheinenden Übergriffen zu schützen. Am 26. November wurde der Leichnam des verstorbenen Sowjetsoldaten in Anwesenheit des sowjetischen Verteidigungsattachés, Oberst Makowskij, mit militärischen Ehren an die Sowjets in Ungarn übergeben. Der gefangene russische Soldat wurde erst am 1. Dezember, nach Intervention der sowjetischen Botschaft in Wien, zurückgestellt.(FN40) Ab 24. November reduzierte das BMLV die im Einsatz befindlichen Kräfte erneut. Die stehenden Spähtrupps wurden aus den Grenzortschaften abgezogen und anstelle dessen Meldeköpfe eingerichtet. Die Bereitschaften wurden reduziert und weitere Kräfte in ihre Heimatgarnisonen zurückverlegt. Motorisierte Spähtrupps befuhren nunmehr den Grenzraum, wobei die Fahrten gleichzeitig der Ausbildung der Kraftfahrer dienten. Mit 25. November beendete man die Unterstellung des Infanteriebataillons 2 unter die Gruppe II. Die taktischen Grenzen wurden mit 30. November aufgehoben.
 
Am 29. November verlegte die 2. Kompanie des Feldjägerbataillons 5 aus ihrem Verfügungsraum Deutsch-Altenburg zurück nach Wien. Noch am 7. Dezember löste das Feldjägerbataillon 13 das bislang in Bruck a. d. Leitha stationierte Feldjägerbataillon 29 ab. Der Stützpunkt Oberpullendorf wurde aufgelöst und die 2. Kompanie des Feldjägerbataillons 1 nach Wr. Neustadt zurückverlegt. Mit gleichem Datum hob das Ressort alle Beschränkungen hinsichtlich des Garnisonsverbotes auf.
 
In der "Wiener Zeitung" ließ das BMLV amtlich verlautbaren, dass die ungarische Gesandtschaft in Wien das offizielle Ende der Kampfhandlungen in Ungarn mitgeteilt habe. Mit Wirkung vom 7. Dezember 00:00 Uhr wurde daher entsprechend den völkerrechtlichen Bestimmungen das Internierungslager aufgelassen. Alle Internierten wurden in Anwesenheit eines Repräsentanten des IKRK darüber befragt, ob sie nach Ungarn zurückkehren oder in Österreich um politisches Asyl ansuchen wollten. Letztlich blieben von rund 1.200 Insassen des Lagers 1.100 in Österreich. Nur 103 Rückkehrwillige reisten nach Ungarn aus.(FN41) Auch das Internierungslager Hörsching, in dem ein sowjetischer Soldat untergebracht war, wurde geschlossen.


Rasch ging der Einsatz seinem vorläufigen Ende entgegen: Am 10. Dezember ordnete das BMLV die Einstellung der verstärkten Patrouillentätigkeit mit Wirkung vom 15. Dezember, 17:00 Uhr, und die Aufhebung der taktischen Abschnittsgrenzen mit 22. Dezember, 00:00 Uhr an. Gleichzeitig hatten aber die Grenzgarnisonen Feldbach, Oberwart, Wr. Neustadt, Bruck a.d. Leitha und Götzendorf sich bereitzuhalten, um auf ein rasches Aviso hin den Patrouillendienst an der Grenze wieder aufnehmen zu können.
Aber gerade an diesem 23. November passierte der schwerste Zwischenfall während des Einsatzes an der Grenze. Bei [[Rechnitz]] verfolgten drei sowjetische Soldaten ein ungarischen Flüchtlingsmädchen auf österreichisches Territorium, um es zu berauben und zu vergewaltigen. Eine zufällig vorbeikommende Patrouille der Gendarmerie stellte die drei Soldaten und verhaftete einen von ihnen. Den beiden anderen, die flüchteten, wurde nach einigen Warnschüssen nachgeschossen, wobei einer im Bauch getroffen wurde, während der dritte Soldat entkam. Der Getroffene verstarb noch auf dem Transport ins Krankenhaus Oberwart. Das alarmierte Infanteriebataillon 2 verlegte noch am gleichen Tag einen verstärkten Infanteriezug nach Rechnitz. Der Leichnam des erschossenen Soldaten wurde am 26. November in Anwesenheit des sowjetischen Verteidigungsattachés an die Rote Armee in Ungarn übergeben. Der gefangene Sowjetsoldat wurde am 1. Dezember in Wien übergeben.  


Als letzter Verband kehrte am 24. Dezember das Feldjägerbataillon 13 in die Heimatgarnison zurück. Damit endete vorerst dieser erste Einsatz des Bundesheeres.
In den nächsten Tagen und Wochen befahl das Verteidigungsministerium das weitere Zurückfahren des Einsatzes. Als letzter Verband kehrte am 24. Dezember das Feldjägerbataillon 13 in die Heimatgarnison zurück, wodurch der erste Einsatz des Bundesheeres sein Ende fand.


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