Sicherungseinsatz des Bundesheeres während der Ungarnkrise 1956
Der Sicherungseinsatz des Bundesheeres während der Ungarnkrise 1956 fand ab 24. Oktober im Burgenland bzw. in den angrenzenden Bundesländern Niederösterreich und Steiermark statt. Es war dies die erste Bewährungsprobe des noch jungen Bundesheeres.
Historischer Hintergrund
Gründung Bundesheer
Die Wurzeln des Bundesheeres der 2. Republik reichen bis in das Jahr 1949 zurück, als man in den drei westlichen Besatzungszonen noch im Geheimen begann, Personal für zukünftige österreichische Militäreinheiten zu rekrutieren. Diese Bemühungen mündeten schließlich am 1. August 1952 in der offiziellen Aufstellung der sogenannten B-Gendarmerie.[1], welche bis zum Jahre 1955 eine Stärke von 340 kriegsgedienten Offizieren, Unteroffizieren und 6460 Mannschaften erreichte.[2]
Nach der Unterzeichnung des Staatsvertrages erfolgte in mehreren Etappen eine Umbenennung bzw. Umgliederung der B-Gendarmerie in das Bundesheer. Nachteilig bei diesem Prozess war, dass dabei rund 2000 Mann verloren gingen, weil sie wegen zu geringer Bezahlung oder der unsicheren Zukunft entweder bei der Bundesgendarmerie verblieben oder in die Privatwirtschaft übertraten.[2] Am 15. Juli 1956 übernahm Ferdinand Graf das Amt des ersten Verteidigungsministers der 2. Republik.
Mit 1. August 1956 gliederte sich das Verteidigungsministerium in die Sektionen I (Leiter General Emil Liebitzky), II (Leiter Oberst Erwin Fussenegger, der zugleich zum Generaltruppeninspektor ernannt wurde) und III. Die Landstreitkräfte gliederte sich in drei Gruppenkommanden, denen neben diversen Sondertruppen acht Brigadekommanden mit jeweils zwei bis fünf Bataillonen unterstanden.[2]
Am 1. Oktober 1956 rückten die ersten Einjährig-Freiwilligen ein, zwei Wochen später, am 15. Oktober, folgten ihnen 13.000 Präsenzdiener.[2]
Ungarischer Volksaufstand
Nach dem Tode von Josef Stalin 1953 keimte in Ungarn Hoffnung auf, sich aus der Umklammerung der Sowjetunion lösen zu können. Der Reformkommunist Imre Nagy wurde Ministerpräsident, doch während Österreichs Außenminister Leopold Figl am 15. Mai 1955 seine Unterschrift unter den Staatsvertrag setzte, war Ungarn einen Tag zuvor dem neugegründeten Warschauer Pakt beigetreten. Vier Tage später, am 18. Mai musste Imre Nagy seinen Platz als Ministerpräsident für András Hegedüs räumen, der die Reformen seines Vorgängers wieder rückgängig machte. Unbeschadet dessen besserten sich aber die Beziehungen zum Nachbarn Österreich im Jahre 1956, so wurde der Minengürtel entlang der Grenze durch ein weniger gefährliches Signalsystem ersetzt.[2]
Am 23. Oktober kam es in Budapest zu einer genehmigten Demonstration ungarischer Studenten, welche sich solidarisch mit den polnischen Werftarbeitern in Posen erklärten, deren Aufstand gegen die Staatsmacht gescheitert war. Ihre Kundgebung war zwar genehmigt, doch begannen die Studenten im Zuge der Kundgebung eigene politische Forderungen aufzustellen. Sie versuchten in ein Gebäude des staatlichen ungarischen Rundfunks einzudringen, um ihre politischen Absichten über das Radio zu veröffentlichen. Dabei wurden sie aus dem Gebäude heraus beschossen. Mit den Waffen ungarischer Soldaten setzten sie sich zur Wehr und stürmten anschließend das Gebäude. Bis zum Abend schwoll die Menschenmenge auf bis zu 200.000 Menschen an, unter denen die Rote Armee ein Blutbad anrichtete.
Ablauf des Sicherungseinsatzes
Dienstag, 23. Oktober 1956
Österreichs Politik wurde von den Ereignisses in Ungarn völlig überrascht. Bundeskanzler Julius Raab hielt sich an diesem Tag anlässlich eines Staatsbesuches in der Bundesrepublik Deutschland auf. Außenminister Leopold Figl weilte in Straßburg, um dem Europarat einen Besuch abzustatten.
Einziges Indiz in Österreich, das auf die bevorstehende Entwicklungen in Ungarn schließen ließ, war der plötzliche Abbruch aller Verbindungen nach Budapest am Abend des 23. Oktobers.
Mittwoch, 24. Oktober 1956
Am Morgen des 24. Oktobers meldete der ungarische Rundfunk fälschlicherweise, dass Imre Nagy neuer Regierungschef war und die Sowjetunion gebeten hätte, die Konterrevolution niederzuschlagen. Tatsächlich stand aber KP-Chef Ernő Gerő an der Spitze des Staatsapparates und die Aufforderung an die Rote Armee einzugreifen, stammte von ihm.
Aufgrund der Entwicklungen im östlichen Nachbarland trafen im Bundeskanzleramt Verteidigungsminister Ferdinand Graf und Innenminister Oskar Helmer mit Vizekanzler Adolf Schärf zusammen. Man verständigte sich rasch auf eine Verstärkung der Gendarmeriekräfte im Burgenland und die Alarmierung des Bundesheeres.
Um 15.00 Uhr beauftrage die Sektion II des Verteidigungsministeriums die drei Gruppenkommanden zur Aufstellung vor Alarmeinheiten:
- Die 1., 2., 5. und 7. Brigade hatten pro Bataillon eine Alarmeinheit in der Stärke einer Kompanie zu bilden.
- Das Heerespionierbataillon hatte eine Pionierkompanie und die Infanteriekampfschule eine gemischte Kompanie bereit zustellen.
- Die Militärakademie Enns musste aus dem 2. und 1. Jahrgang zwei vollmotorisierte Alarmkompanien aufstellen.
- Eine Aufklärungskompanie hatte die Panzertruppenschule Hörsching zu stellen.
- Die Mobilmachung einer Alarm-Batterie musste durch die Artillerieschule erfolgen.
- Die Fliegerkräfte hatten einen Hubschrauber und ein Flächenflugzeug (Jak-11) für Aufklärungs- und Erkundungszwecke bereitzustellen.
- Die 5. Brigade hatte einen Infanteriezug nach Fürstenfeld zu verlegen.
Lediglich dieser Infanteriezug der 5. Jägerbrigade hatte auszurücken und sollte als Rückhalt für die im Raum Fürstenfeld eingesetzten Exekutivbeamten dienen.
Um 16.00 Uhr kam es im Innenministerium zu einer Besprechung zwischen den höchsten Vertretern von Gendarmerie und Bundesheer und den zuständigen Ministern. Als Sofortmaßnahme wurde beschlossen 34 Beamte der Gendarmerieschule Rust mit Funkwagen auszustatten und sie für einen beweglichen Einsatz bereitzustellen. 40 Mann der Gendarmerieschule Wien wurden in die Jägerkaserne Pinkafeld verlegt, weitere 50 Mann aus der Grazer Gendarmerieschule in einen Stützpunkt nach Fürstenfeld und 30 Mann nach Bruck an der Mur. Verteidungsminister Graf holte sich während der Besprechung telefonisch von anderen Regierungsmitgliedern die Erlaubnis zur Verschiebung von Bundesheereinheiten ein.
Um 17.00 Uhr folgten weitere Aufträge an das Bundesheer durch die Sektion I, die teilweise den Anordnungen der Sektion II widersprachen. Neben dieser Doppelgleisigkeit bei der Auftragserteilung traten im Zuge der Alarmierung viele weitere Probleme zutage, wie zum Beispiel die Befehlsübermittlung an untergeordnete Einheiten, mangelnde Kommunikationseinrichtungen oder das Fehlen von verschiedenen Experten für wichtige Schlüsselfunktionen.
Nachdem endlich die Zuständigkeiten zwischen Sektion I und II geklärt worden waren, ordnete Generaltruppeninspektor Fussenegger, der Leiter der Sektion II, folgende Maßnahmen an:
- Marschbereitschaft für die aufzustellenden Alarmeinheiten innerhalb von 30 Minuten.
- Alarmeinheiten hatten zu stellen: das Heereswachbataillon, die Infanteriekampfschule, das Feldjägerbataillon 1, das Infanteriebataillon 2, die Artillerieschule (eine Batterie, teilbar) und das Heerestelegraphenbataillon.
- Für das Feldjägerbataillon 5 und das Infanteriebataillon 2 wurde die Alarmbereitschaft aufgehoben.
- In Pinkafeld war die behelfsmäßige Unterbringung von 40 Gendarmen sicherzustellen.
- Ein Schützenzug der Gruppe II war nach Fürstenfeld in Marsch zu setzen.
- Die Staatsgrenze überschreitende fremde Truppen waren darauf aufmerksam zu machen, dazu ist je nach Lage einzuschreiten.
- Die Luftstreitkräfte erhielten den Auftrag, zwei Hubschrauber und eine Jak-11 für Aufklärungszwecke vorzubereiten.
Bei der Aufstellung der Alarmeinheiten trat das Problem auf, dass nicht ausreichend kriegserfahrenes Kaderpersonal zur Verfügung stand, sodass man auf Rekruten zurückgreifen musste, die gerade erst seit zwei Wochen Uniform trugen. Auch beim Munitionsnachschub gab es große Schwierigkeiten, hier halfen sich die meisten Einheiten mit ihren gehorteten Schwarzbeständen.
Im Laufe des frühen Abends meldeten die Alarmeinheiten der 1. und 2. Brigade, die beide zum Gruppenkommando I gehörten, ihre Marschbereitschaft, sodass 650 Mann dieser Einheiten zur Verfügung standen. Beim Gruppenkommando II wurde die Alarmbereitschaft einzelner Verbände aufgrund der Weisungen des Ministeriums wieder zurückgenommen. Dieses Gruppenkommando entsandte aber auch einen Offiziersspähtrupp zu den Gendarmerieposten von Fehring und Mogersdorf, um die Lage im Grenzraum zu erkunden. Dieser Spähtrupp meldete dann doch Bewegungen ungarischer Soldaten auf österreichischem Territorium sowie Schüsse auf ungarischem Gebiet und Panzergeräusche.
In einem ersten Resümee am späten Abend bilanzierte der Generaltruppeninspekteur, dass es teilweise ein großes Durcheinander und gravierende Mängel bei der Alarmierung gegeben hatte, aber dass es dann doch gelungen war, alle befohlenen Maßnahmen befehlsgemäß durchzuführen.
Donnerstag, 25. Oktober 1956
Am Morgen des 25. Oktobers meldete der ungarische Rundfunk, dass der Aufstand niedergeschlagen sei. Man kündigte außerdem die Rückkehr zur alten Ordnung für den nächsten Tag an, weil angeblich sämtliche Kampfhandlungen eingestellt worden waren.
Obwohl keine Verbindung zur österreichischen Botschaft in Budapest bestand, befahl die Sektion II des Verteidigungsministeriums die Aufhebung der Bereitschaftsmaßnahmen für die meisten Alarmverbände. Zu dieser Entscheidung hatten auch positive Meldungen der an der Grenze eingesetzten Verbände sowie die Einschätzung der österreichischen Nachrichtendienste beigetragen, welche den Aufstand als niedergeschlagen ansahen und daher ihre Abhöraktivitäten zurückfuhren.
Tatsächlich ging dieser Tag als Blutiger Donnerstag in die ungarische Geschichte ein. Die ungarische Staatssicherheits-Polizei ÁVH richtete vor dem Parlament und in der Provinzstadt Mosonmagyaróvár ein Massaker an. Gerö wurde daraufhin aufgrund einer sowjetischen Intervention durch János Kádár ersetzt, aber das Volk war dadurch nicht mehr zu beruhigen.
Freitag, 26. Oktober 1956
An diesem Tag jährte sich zum ersten Mal der Beschluss der immerwährenden Neutralität Österreichs. Die Regierung hatte aber ganz andere Sorgen, denn mittlerweile musste die militärische Führung eingestehen, dass sie die Entwicklung der Lage in Ungarn falsch eingeschätzt hatte. Bundeskanzler Julius Raab, der in der Zwischenzeit aus Deutschland zurückgekehrt war, ordnete im Rahmen einer Konferenz nach wenigen Minuten einen massiven Einsatz des Bundesheeres an der Staatsgrenze an. Die Gruppenkommanden I, II und III erhielten neuerlich den Auftrag Alarmeinheiten aufzustellen. Außerdem mussten die Kommandobehörden I und II beauftragt, Jeeppatrouillen an die Grenze zu schicken.
Am Abend erging an die österreichischen Truppen der Schießbefehl unter folgenden Bedingungen:
- Feuereröffnung dann, wenn die Grenze von bewaffneten Einzelpersonen oder Gruppen überschritten wird und der Aufforderung zum Zurückgehen oder zur Niederlegung der Waffen nicht Folge geleistet wird.
- Das Feuer ist zu erwidern, wenn Eindringlinge selbst das Feuer eröffnen.
- Eine Feuereröffnung darf nicht erfolgen, wenn das Feuer von jenseits der Grenze eröffnet wird.
Verteidigungsminister Graf ließ am Abend den sowjetischen Militärattaché zu sich bitten, um ihm die österreichische Position zu erklären. Der Abend endete für beide mit viel Alkohol und laut Graf soll der Sowjetoffizier irgendwann erklärt haben, dass die österreichischen Grenzen respektiert werden würden.
Die Alarmierung der Bundesheereinheiten verlief wie schon zwei Tage zuvor nicht reibungslos. Wieder kam es zu einem Befehlschaos, an dem auch der Verteidigungsminister seinen Anteil hatte, weil er persönlich bis zur Bataillonsebene hinunter Befehle erteilen ließ, ohne die übergeordneten Kommanden davon zu informieren. Es trat auch ein Mangel an ausgebildeten Kraftfahrern auf, sodass kurzerhand Führerscheinbesitzer unter den Rekruten ermittelt werden mussten, die nach einigen Proberunden im Kasernenhof den Militärfahrzeugen kurzerhand zugeteilt wurden.
Samstag, 27. Oktober 1956
Der Einsatz des Heeres an der Grenze begann an diesem Samstag. Die eingesetzten Truppen wurden vom Verteidigungsminister und dem Generaltruppeninspektor sowie weiteren hohen Beamten und Offizieren besichtigt. Sie mussten dabei zur Kenntnis nehmen, dass die Ausrüstung der Truppe in vielerlei Hinsicht große Mängel aufwies. Es fehlte an Munition, Kartenmaterial, Taschlampenbatterien und vielen anderen Dingen.
Folgende taktischen Maßnahmen wurden im Raum des Gruppenkommando I befohlen:
- Das Kommando der 1. Brigade verlegte von Eisenstadt nach Wiener Neustadt.
- Das Kommando der 2. Brigade verlegte von Wien nach Bruck an der Leitha.
- Die Aufklärungskompanie wurde nach Neusiedl am See verlegt und erhielt den Auftrag im Raum Gols-Halbturn-Frauenkirchen zu patroullieren.
- Die Grenze zu den Einheiten des Gruppenkommando II wurde festgelegt mit Raum Hirschenstein-Bernstein-Hochneukirchen-Gschaidt.
- Innerhalb des Gruppenkommandos I bildete die Linie Sommerein-Neusiedl am See die Grenze zwischen 1. und 2. Brigade.
Im Raum des Gruppenkommandos II wurden folgende Maßnahmen befohlen:
- Der Gefechtsstand der 5. Brigade hatte nach Fürstenfeld zu verlegen.
- Das Infanteriebataillon 2 wurde der Gruppe II unterstellt. Ein Zug des Bataillons verlegte nach Großpetersdorf.
- Ein Zug des Jägerbataillons 17 wurde nach Fehring beordert.
Für das Wochenende wurde befohlen, dass die Soldaten in den Garnisonen zu verbleiben hatten. Jeweils um 12:00 Uhr und um 20:00 Uhr mussten sie in den Kasernen anzutreten, um weitere Befehle entgegenzunehmen. Alle höheren Offiziere hatten ständig erreichbar zu sein.
Sonntag, 28. Oktober 1956
Bis auf die motorisierten Patrouillen erhielten alle eingesetzten Truppen den Befehl, sich der Staatsgrenze nicht mehr als 500 Meter zu nähern. Damit wollte man verhindern, dass die Bundesheereinheiten nicht in Zufallsgefechte verwickelt werden. Außerdem erließ die Sektion I einen eindeutigen Schießbefehl, der den österreichischen Soldaten sowohl die Feuereröffnung auf ungarische Einheiten aber auch auf Einheiten der Roten Armee erlaubte, für den Fall, dass sie sich auf österreichischem Hoheitsgebiet befinden und der Aufforderung dieses wieder zu verlassen, nicht nachkommen.
Das Verteidigungsministerium alarmierte zusätzliche Einheiten in Westösterreich. Dabei traten neben Personal- und Ausstattungsmängel auch Probleme hinsichtlich der vorhandenen Transportkapazitäten auf. So konnten zum Beispiel die beiden Alarmkompanien der Militärakademie Enns erst am 29. Oktober 9.30 Uhr ihre Marschbereitschaft melden.
Erfolgreicher verlief hingegen der Aufbau eine Kommunikationsstruktur mit den Kommandostellen der eingesetzten Einheiten. Hier konnte sowohl von seiten des Bundesheeres mit den eingesetzten Fernmeldekräften als auch über die Postämter im Einsatzgebiet die Verbindung zu den vorgeschobenen Einheiten gewährleistet werden.
Gegen Mittag trat der Ministerrat zusammen und billigte nachträglich, nach einigen Diskussionen, alle von Verteidigungsminister Graf getroffenen Maßnahmen. Der Innenminister wurde beauftragt, das Grenzgebiet zu Ungarn zum Sperrgebiet zu erklären, um Neugierigen en Zutritt zu verwehren. Außerdem sollte das Straßennetz für Bundesheer und Hilfsorganisationen frei gehalten werden. Hauptthema des Ministerrates war aber die Formulierung eines Appells an die Sowjetunion, mit dem diese aufgefordert werden sollte, mitzuwirken, dass die Kampfhandlungen eingestellt werden und das Blutvergießen beendet wird. Natürlich ergaben sich heftige Diskussionen über das Verhalten des Bundesheeres bei einem Grenzübertritt von Truppen der Roten Armee. Vor allem die Minister Leopold Figl, Ferdinand Graf, Oskar Helmer und Otto Tschadek sprachen sich für den Einsatz von Waffen aus.
Montag, 29. Oktober 1956
An diesem Tag entschied die Sektion I, dass die Staatsgrenze, aber auch Fahrzeuge des Bundesheeres und der Exekutive mit rot-weiß-roten Fahnen zu kennzeichnen seien, um eine eindeutige Identifizierung zu ermöglichen. Man rechnete nun auch mit großen Flüchtlingsströmen und befahl, dass Kasernen und das ehemalige Kriegsgefangenenlager Hörsching als Aufnahmestationen vorbereitet werden. Das Bundesheer musste die Bereitstellung von Decken, Feldküchen und Wirtschaftsgütern für zivile Organisationen vorbereiten. In den Kasernen Bruck an der Leitha, Wiener Neustadt und Pinkafeld wurden vorsorglich Truppenverbandsplätze eingerichtet.
Dienstag, 30. Oktober 1956
Um sowjetischer Propaganda entgegenzuwirken, lud das Verteidigungsministerium die Verteidigungsattachés der Signatarmächte des Staatsvertrages am 30. Oktober zu einer Besichtigung des Grenzraumes unter Leitung von General Liebitzky, des Leiters der Sektion I, ein. Besonders die westlichen Militärs zeigten sich zufrieden mit den getroffenen Maßnahmen.
Mittwoch, 31. Oktober 1956
Während man in Österreich noch damit rechnete, dass der gemäßigte Imre Nagy die Lage noch beruhigen könnte, rückten starke sowjetische Panzereinheiten in den Osten Ungarns ein.
Donnerstag, 1. November 1956
Am Vormittag besetzten sowjetische Truppen den Flughafen Budapest, offiziell um den Schutz der Ungarn verlassenden sowjetischen Bürger und der Verwundeten zu ermöglichen. In Wirklichkeit brachten die Sowjets damit frühzeitig den operativ wichtigen Flughafen in ihren Besitz.
Freitag, 2. November 1956
Während in Ungarn aus allen Himmelsrichtungen sowjetische Einheiten in das Land eindrangen, war die Situation an der österreichischen Grenze noch entspannt. Das Bundesheer meldete völlige Ruhe und erfüllte auftragsgemäß alle Aufgaben. Die wenigen Flüchtlinge wurden an die Exekutive übergeben.
Samstag, 3. November 1956
Auch am 3. November gab es vorerst keinerlei Hinweise auf die sich nun schlagartig verschärfende allgemeine Lage im Nachbarland. Die Nachrichtentruppe vermeldete sogar, dass an diesem Tag es seit langem zu keinerlei Kampfhandlungen im östlichen Nachbarnland gekommen sei.
Tatsächlich hatte die Regierung Nagy an diesem Tag Verhandlungen gegen die Besatzer geführt und für die eigenen Einheiten eine strikte Feuereinstellung befohlen. Während die Unterhändler sich an einen Tisch setzten, nutze die sowjetische Armeeführung die Gunst der Stunde und brachte ihre Einheiten ohne Gegenwehr in günstige Ausgangsstellungen für die endgültige Niederschlagung des Aufstandes.
Sonntag, 4. November 1956
Der Angriff der Roten Armee begann um 4.00 Uhr früh im ganzen Land. Bis zum Abend erreichten die ersten Einheiten der Roten Armee die österreichische Grenze, die aber von ihnen respektiert wurde.
Besonders beunruhigend für die österreichischen Behörden war aber die Meldung, dass auch die Tschechoslowakische Volksarmee große Truppenkontingente mobiliserte.
Im eigenen Land hatte man sich mit der Berichterstattung der Volksstimme herumzuschlagen, welche schon seit längerem Vorwürfe gegen Österreich erhob, dass es seine Neutralität in der Ungarnfrage verletze. Die Zeitung wurde an diesem Tag wegen Hochverrates und Verbreitung beunruhigender falscher Gerüchte beschlagnahmt. Dies löste natürlich in den kommunistischen Medien des Auslandes erst recht einen Proteststurm aus. In Österreich selbst stieg die Wut im Volk derart an, dass die Polizei einschreiten musste, um körperliche Verfolgungen österreichischer Kommunisten und Zerstörungen kommunistischer Einrichtungen zu verhindern.
Die Zahl der Flüchtlinge begann nun stetig anzusteigen. Die Gruppe II meldete 3000 Flüchtlinge aus dem Raum Szentgotthárd, die von Zivilbehörden nach Graz abtransportiert wurden. Unter den Flüchtlingen befanden sich auch etwa 100 ungarische Soldaten, die interniert wurden. Im Norden bei der Gruppe I löste die Besetzung von Sopron durch die Rote Armee eine Fluchtwelle aus. Bis zu 7000 Flüchtlinge bewegten sich auf der Straße Richtung Eisenstadt und wurden von den Zivilbehörden ins Hinterland gebracht. Bis zu 200 weitere ungarische Soldaten wurden bei Klingenbach entwaffnet und nach Eisenstadt gebracht.
Die bereitgestellten Aufnahmelager füllten sich rasch und hatten bald ihre Kapazitätsgrenzen erreicht, sodass neue Lager aktiviert werden mussten. Unter den Flüchtlingen befanden sich erstmals auch ungarische Soldaten. Während diese anfangs als Verbrecher eingestuft wurden, die ohne Kriegserklärung auf österreichisches Territorium vorgedrungen waren, erging schließlich ein Befehl an die österreichischen Einheiten, ungarische Militärangehörige entsprechend der Haager Landkriegsordnung zu behandeln. Die Pioniertruppenschule Klosterneuburg wurde innerhalb weniger Stunden in ein Internierungslager für 500 Personen umfunktioniert. Weitere Sammelstellen für Internierte wurden in Eisenstadt, Oberwart und Feldbach eingerichtet.
Montag, 5. November 1956
In den Morgenstunden des 5. November traten allein im Bereich der Gruppe I 230 ungarische Militärpersonen über die Grenze. Bis zum Abend belegten bereits 577 Internierte das Lager von Klosterneuburg. Insgesamt waren bis zu diesem Zeitpunkt bereits rund 10.000 Personen bereits nach Österreich geflüchtet. Im Laufe des Tages erreichten und besetzten die Einheiten der Roten Armee die gesamte Grenze zu Österreich. Fremde Flugzeuge drangen in den österreichischen Luftraum ein ohne dass irgendwelche Gegenmaßnahmen hätten unternommen werden können.
Die kommunistischen Medien fuhren weiter schwere Geschütze gegen die Haltung Österreichs auf. Besondere Sorgen bereitete die Mobilmachung in der Tschechoslowakei. Im Zusammenhang mit der Propaganda musste im schlimmsten Fall sogar mit einem Angriff auf Österreich gerechnet werden.
Die österreichischen Militärs arbeiteten nun zwei Szenarien aus:
- Konzentration auf eine mögliche Bedrohung aus der Tschechoslowakei
- Einsatz gegen die Tschechoslowakei und Aufrechterhaltung des Grenzschutzes gegen Ungarn
Die erste Operationsvariante sah den Einsatz der 4. Brigade im Mühlviertel, der 3. Brigade im Waldviertel und der 2. Brigade im Weinviertel vor. Das Infanteriebataillon 10 aus Klagenfurt sollte der 3. Brigade als Verstärkung zugeführt werden.
Bei der zweiten Variante hätte zuerst die 3. Brigade den Grenzschutz gegen die Tschechoslowakei übernehmen sollen. Ihr hätten dann so schnell wie möglich ein Alarmbataillon der Militärakademie, eine Aufklärungskompanie, das Feldjägerbataillon 9 und das Heerespionierbataillon 1 zugeführt werden sollen. In weiterer Folge noch die 6. Brigade, die dann das Kommando im Wald- und Mühlviertel hätte übernehmen sollen, während sich die 3. Brigade auf das Weinviertel hätte konzentrieren sollen.
Als Reserven standen die 5. und 8. Brigade bereit, die bereits seit 3. November geheim Vormarschstraßen nach Ostösterreich erkundeten. Die 8. Brigade litt aber unter einem großen Mangel an Transportfahrzeugen.
An diesem Tag hatte sich
Angesichts dieser Entwicklung war es nur verständlich, dass der GTI in einem Memorandum die verzweifelte Forderung erhob, bei der Schweizer Regierung die Bitte zu deponieren, Österreich das Material für zwei komplette Brigaden zu verkaufen oder zu leihen. Schließlich sei auch die Schweiz von einer Gefährdung der österreichischen Sicherheit betroffen. So berechtigt die Forderung schien, so unmöglich war aber auch deren Umsetzung. Das Memorandum verließ das Ministerium nicht.(FN34) Am Abend dieses 4. November schloss der Offizier vom Dienst, Oberstleutnant Bach, den Abendrapport mit folgenden Meldungen ab: - Am heutigen Tag schoben sich die Russen in großer Breite an die österreichische Grenze heran und lösten in Zusammenhang mit dem Handstreich in Budapest eine umfangreiche Fluchtbewegung der ungarischen Bevölkerung aus. Zum ersten Mal traten auch ungarische Soldaten in größerer Zahl auf österreichisches Gebiet über, sie ließen sich überall reibungslos entwaffnen.
- Gruppe II: Flüchtlingsanfall v.a. im Raum St. Gotthard. Bisher etwa 2.500 bis 3.000 Flüchtlinge, darunter 80 bis 100 internierte Honved-Soldaten. Abtransport der Zivilflüchtlinge nach Graz durch Zivilbehörden im Gange. 2. Kompanie/Feldjägerbataillon 17 (vermindert um einen Zug) verlegt von Straß nach Feldbach zur besseren Überwachung des Raab-Tales.
- Gruppe I: am rechten Flügel nur geringe Flüchtlingsbewegungen. Die Besetzung von Ödenburg durch russische Panzertruppen verursachte einen starken Flüchtlingsstrom v.a. auf der Straße Ödenburg-Eisenstadt. Nach Schätzungen der Exekutive sind hier 5.000 bis 7.000 Flüchtlinge durchgekommen, mit deren Abtransport die Zivilbehörden begonnen haben. 100 bis 200 ungarische Soldaten wurden in Klingenbach entwaffnet. Sie werden in der Interniertensammelstelle Eisenstadt gesammelt. Genaue Meldung über sichergestellte Personen und Gerät wird nachgereicht. Im Raum ostwärts des Neusiedlersees lebhafte eigene Spähtrupptätigkeit. Grenzübertritt und Internierung von 50 Honveds, sonst nur geringe Flüchtlingsbewegung.
- Interniertenlager Klosterneuburg: am 5.11. für zunächst 500 Mann aufnahmebereit.
Ab den frühen Morgenstunden des 5. November erfolgten Luftlandungen französischer und britischer Fallschirmjäger in der Suez-Kanalzone, die zum Teil auf heftigen Widerstand ägyptischer Truppen stießen. Die Sowjetunion drohte in der Folge mit dem Einsatz von Interkontinentalraketen. Der UNO-Sicherheitsrat forderte die unverzügliche Feuereinstellung. In Österreich brach unter der Wiener Bevölkerung Kriegspanik aus, und dem Einzelhandel gingen innerhalb kurzer Zeit die Lebensmittel aus. Zeitweilig konnte man in den Geschäften weder Waschseife, noch Öl, Reis, Mehl oder Zucker mehr kaufen, da die Händler mit den Nachlieferungen nicht mehr nachkamen. Angeblich verließen sogar vereinzelt Personen und Familien Wien Richtung Westen.(FN35) Selbst die USA hielten nun eine Eskalation auch in Mitteleuropa nicht mehr für undenkbar, wie der Besuch des US-Verteidigungsattachés Oberst Sloane im BMLV zeigte. Auf diese Vorsprache hin konfrontierte der BM den GTI mit acht Fragen betreffend die möglichen Entwicklungen und beauftragte ihn mit der Planung und Vorbereitung von Gegenmaßnahmen.(FN36) Oberst Fussenegger ordnete nunmehr die Bildung eines Führungsstabes an, der die Funktion eines Armeekommandos erfüllen sollte. Bislang lief ja neben der Führung des Sicherungseinsatzes der normale Büro- und Dienstbetrieb in der Zentralstelle weiter.
Am Ende der Beratungen mit Leeb und Bach stand ein Operationsbefehl, der die erforderlichen Verteidigungsmaßnahmen aus militärischer Sicht darlegte. Minister Graf stimmte zwar vorerst diesem Operationsbefehl zu, doch festigte sich später die Auffassung, dass ohne Befassung des Landesverteidigungsrates und der Bundesregierung eine solche weit reichende Entscheidung wie dieser Befehl nicht machbar wäre. Erst am Vortag war ja die Bundesregierung zu einer außerordentlichen Sitzung zusammengetreten, um über die Lage zu beraten. Hier war aber über eine bedrohliche Verschärfung der Lage, die weitere militärische Maßnahmen erforderlich machen könnte, nicht gesprochen worden und daher auch nicht über eine allfällige Ermächtigung für den BM, Verteidigungsmaßnahmen einzuleiten. Dennoch unterschrieb Graf am späten Nachmittag vorerst den Einsatzbefehl für das Bundesheer, der um 18:00 Uhr an die Gruppenkommanden übermittelt wurde. Noch am Abend wollte Bundesminister Graf den Befehl wieder zurückgenommen wissen, ließ sich aber überzeugen, ihn doch auszuführen. Die militärische Führung musste jedoch die Rücknahme des Befehles an die Gruppe III zur Verlegung in den Einsatzraum zur Kenntnis nehmen. Sie verblieb in ihren Garnisonen. Alle anderen Verlegungen erfolgten dann als so genannte "Nachtmarschübung".
Der Weisung zufolge sollten in der Nacht zum 6. November die Kräfte auf die allgemeine Linie Sauerbrunn - Großhöflein, Bruck a.d. Leitha - Petronell zurückgenommen werden und dort eine stützpunktartige Verteidigung vorbereitet werden; weiters sollte hinhaltend kämpfend vorerst auf die Wienerwaldeingänge und weiter in den Raum St. Pölten zurückgegangen werden. Die Gruppe II sollte mit der 5. Gebirgsbrigade stützpunktartig die Linie Fehring-Fürstenfeld-Markt Allhau besetzen, vor überlegenem Gegner hinhaltend kämpfend in die Graz-Schutzstellung zurückgehen, die Gruppe III im Raum Linz - Enns - Steyr führen sowie die Donau-Brücken außerhalb Wiens zur Sprengung vorbereitet werden. Die Gruppe III hatte im Falle der Verhinderung des Führungsstabes/BMLV die operative Führung zu übernehmen und die Truppen ihre Kasernen in der Nacht zu verlassen und garnisonsnahe Verfügungsräume zu beziehen, um nicht Ziele für Fliegerangriffe zu bieten. Im unmittelbaren Grenzraum sollten lediglich die bislang eingesetzten Panzeraufklärungskräfte sowie einzelne motorisierte Spähtrupps verbleiben. Für den Kommandostab wurde eine Kraftfahrstaffel bereitgestellt, mit der vom Ministerium weg in die Tiefe des Raumes verlegt werden sollte, wobei vorerst an den Raum St. Pölten gedacht war, da man dort die militärische Infrastruktur nützen wollte.(FN37) Im Fall eines Angriffes erhielt damit die Gruppe I den Auftrag, mit ihren Kräften einen hinhaltenden Kampf aus den Pforten (gemeint sind die Hainburger Pforte, die Brucker Pforte und die Eisenstädter Pforte) zurück bis an die Wienerwald-Eingänge und eine so genannte "Wienerwald-Schutzstellung" zu führen und sich in dieser zur Verteidigung einzurichten. Diese Wienerwald-Stellung existierte jedoch lediglich als Begriff. Es waren keinerlei Vorbereitungen erfolgt, auch Erkundungen hatten nicht stattgefunden. Immerhin übte ein Alarmzug der Artillerieschule im Helenental die bewegliche Panzerabwehr mit schweren Feldhaubitzen.
Die Kräfte der Gruppe II sollten vorerst stützpunktartig im Raum Fehring und an den Lafnitz-Übergängen zum Einsatz kommen, im Falle eines Angriffes jedoch auf die so genannte "Graz-Schutzstellung" zurückgehen und sich in der Linie Wildon-Hausmannstätten - Raum südlich von Rinnegg zur Verteidigung einrichten. In das Mur- und Mürztal wollte man parallel dazu Aufklärungstruppen schieben.
Weder der Gruppe I noch der Gruppe II wäre es vermutlich gelungen, den gestellten Auftrag zu erfüllen. Vielleicht wäre es möglich gewesen, örtlich begrenzt und kurzfristig die Bewegungslinien und deren Angelände zu sperren, ohne dadurch aber einen selbst auch nur kurzen Abwehrerfolg erringen zu können.
Den Soldaten, voran den Offizieren, die großteils kriegsgedient waren, schien die Lage klar: Aus dem bisherigen Sicherungseinsatz war plötzlich eine konkrete Bedrohung Österreichs geworden. Allen war bewusst, dass im Fall eines Angriffes keine Erfolgsaussicht bestand und daher die beabsichtigte Kampfführung in einem Desaster enden musste. Noch immer bestanden nämlich gravierende Mängel der Einsatztauglichkeit von Soldat und Material.
Dass eine staatspolitisch wichtige Aufgabe zu erfüllen war, hatten aber alle Beteiligten erkannt, und v.a. den Offizieren war bewusst, dass Ereignisse wie jene im März 1938 nie mehr wieder passieren dürften. Dies war wohl auch die Triebfeder des Handelns des GTI, der in dieser Situation mit seinen Anordnungen seine Befugnisse bei weitem überschritt, als er befahl, dass die Brücken über die Donau (Tulln, Krems, Persenbeug, Mauthausen, Steyregg, Linz - die Rollfähren über die Donau sollten unbrauchbar gemacht werden) konkret zur Sprengung vorzubereiten seien, was auch durchgeführt wurde! Major Pribil, der Kommandant des Heerspionierbataillons 1, wurde am Abend des 5.11. nach Wien befohlen und erhielt im BMLV einen persönlichen und handgeschriebenen Befehl des GTI ausgefolgt mit dem Auftrag, die Donaubrücken noch in der Nacht zur Sprengung vorzubereiten. Major Pribil setzte diesen Befehl in weiterer Folge nach Punkt und Beistrich um!(FN38) Oberst Fussenegger bewies in dieser Situation großen Mut zum Risiko und übernahm mit seinen Entscheidungen nicht nur die militärische Verantwortung, sondern wohl auch eine politische, die vielleicht bis heute nicht ausreichend gewürdigt worden ist. Er setzte durch, die Bedrohung so ernst zu nehmen, dass ihr militärisch entgegengetreten werden konnte, und stellte dadurch sicher, dass Österreich tatsächlich glaubwürdig als Opfer einer militärischen Aggression bezeichnet hätte werden können.
Bei strömendem Regen verlegten die eingesetzten Kräfte in die befohlenen Einsatzräume. Stellungen und Stützpunkte wurden gegraben, schwere Waffen getarnt, die Munition hiefür bereitgelegt. Lediglich die Panzeraufklärungskompanien verblieben als "Schleier" an der Grenze. Die eingerückten Jungmänner verlegten auftragsgemäß aus den Kasernen in garnisonsnahe Verfügungsräume, um nicht Ziel von Luftangriffen zu werden. Später verlegten sie überhaupt auf Übungsplätze in der Tiefe.
Dienstag, 6. November 1956
Allein der Bevölkerung an der Grenze wurde klar, was der Abmarsch der Soldaten bedeutete: "Die Russen kommen - ihr lasst uns alleine." In den frühen Morgenstunden des 6.11. meldeten die Brigaden den Abschluss der Umgruppierung und die Abwehrbereitschaft.
Als im Lauf des Vormittags des 6. November ein Angriff auf Österreich nicht stattfand und auch die verbliebenen Spähtrupps von der Grenze "alles ruhig" meldeten, hob das BMLV die Verteidigungsmaßnahmen wieder auf. Die Anspannung, die alle erfasst hatte, wich.
Für die Kommandanten und Truppen stellte die nächtliche Verlegung und die Vorbereitung zur Verteidigung gleichzeitig eine ausgezeichnete Übung dar. Die militärische Führung entschied, dass die zurückgenommenen Kräfte gleich dort neue Verfügungsräume und Unterkünfte zu erkunden und beziehen hätten. Die Aufklärungskompanien übernahmen die Aufgaben der Grenzüberwachung. Aus der Tiefe wurden weitere Spähtrupps auf Jeeps, drei Mann unter Kommando eines Offiziers, an die Grenze vorgeschoben. Sie versahen rund um die Uhr Dienst mit dem Auftrag, möglichst viele Flüchtlinge über die (militärische) Lage zu befragen, v.a. aber die Verteilung der sowjetischen Kräfte im ungarischen Raum sowie deren Verhalten in Erfahrung zu bringen. Motorisierte Kräfte der 1. Brigade überwachten das Mittelburgenland.
Der 500 m-Sicherheitsabstand zur Staatsgrenze, der nicht betreten/befahren werden sollte, wurde eingehalten. Die Kompanien und Bataillone richteten sich in ihren neuen Verfügungsräumen für einen längeren Verbleib ein und knüpften gleichzeitig neue, enge Kontakte mit der örtlichen Bevölkerung, die die Soldaten wiederum mit großer Freude bei sich aufnahm.
Noch am 6. November wollte man den Verteidigungsattachés im Rahmen einer Gefechtsübung im scharfen Schuss die Einsatzbereitschaft der Truppe präsentieren. Allerdings erwies sich das Interesse der Attachés als so gering, dass Besuch und Übung abgesagt werden mussten.
Aktionen bis zum Jahresende
Der Flüchtlingsstrom wuchs nun beständig, und das Schwergewicht der Führungsaufgaben verlagerte sich in den Bereich der Organisation der Unterstützung für die Exekutive, die diese Massen von Flüchtlingen nicht mehr bewältigen konnte. Ein Brennpunkt des Geschehens lag dabei im Bereich des Seewinkels am Einserkanal im Raum Andau. Mehr und mehr Menschen flüchteten dort während der Nachtstunden. Am Höhepunkt der Flüchtlingswelle überschritten in einer Nacht (18. auf 19. November) über 2.000 Personen den Einserkanal bei Andau.
Das Bundesheer befragte geflüchtete und für die Beurteilung der Lage interessante Militärpersonen, entwaffnete und internierte sie. Noch am 6. November hatte das BMLV die Verlegung im Eisenbahntransport unter Bewachung von rund 660 Internierten und deren Familien von Klosterneuburg nach Wals-Siezenheim angeordnet. Zutiefst österreichisch, durften die Familien bei ihren internierten Männern verbleiben. Da die Flüchtlingszahl insgesamt jedoch rasant anstieg, mussten auch noch die verbliebenen 700 Internierten nach Siezenheim verlegt werden, um in Klosterneuburg Platz für neu ankommende Flüchtlinge zu schaffen. Die für den Betrieb des Internierungslagers geschaffenen Regelungen klangen verhältnismäßig einfach: "Das Verlassen des Lagers ist verboten. Infolge der Ausnahme von Artikel 92 ist für Fluchtversuche wohl die Waffenanwendung anzudrohen, die Anwendung eines gezielten Schusses zur Verhinderung eines Fluchtversuches jedoch nur dann erlaubt, wenn der Fluchtversuch in Verbindung mit strafrechtlich zu ahndenden Handlungen steht; sonst sind nur Warnschüsse abzugeben." (FN39) Später, als auch den Ungarn klar geworden war, dass übertretende Soldaten in Österreich erneut hinter Gittern verschwanden, kamen verschiedentlich Soldaten als "Studenten" nach Österreich, um so der Internierung zu entgehen.
Die Verteidigungsvorbereitungen blieben aufrecht, schon allein, weil immer wieder Besorgnis erregende Informationen einlangten. Die USA bereiteten eine Teilmobilmachung vor, was offensichtlich bedeutete, dass sich die weltpolitische Lage bei weitem noch nicht beruhigt hatte; auch aus der CSSR kamen immer wieder widersprüchliche Informationen. Schon am 5. November hatte die Grenzschutzabteilung den Auftrag erhalten, unter Einbeziehung des Pioniertruppeninspektors Sperrvorbereitungen an den Hauptbewegungslinien zwischen der ungarischen Grenze und Wien bis zur Enns, der ungarischen Grenze bis zur Pack und Graz sowie an den Donaubrücken vorzunehmen. Die militärische Führung ordnete an, die Erkundungen in Zivilkleidung durchzuführen, um die Bevölkerung nicht zu beunruhigen.
Abseits davon entwickelte sich für die Truppe nun langsam ein gewisser Routinebetrieb, und man ging sogar daran, die ersten Truppenteile aus dem Dispositiv herauszulösen und in die Heimatgarnisonen zurückzuverlegen. So rückten am 12. November die Alarmkompanien der Militärakademie wieder nach Enns ein. Nun erfolgte auch langsam die Umgliederung der Alarmkompanien in Orgplan-mäßige Kompanien, indem sie mit Rekruten des Einrückungstermins 15. Oktober aufgefüllt wurden.
Der Einsatzwert der Truppe war in Teilbereichen nach wie vor äußerst gering. Von den verfügbaren Panzern konnte so mancher nur bewegt, nicht aber ins Gefecht geführt werden, und den für eine Verlegung vorgesehenen Jungmännern fehlte zum Sturmgepäck das Tragegerüst.
In einem Memorandum deponierte der GTI seine großen Sorgen, indem er in acht Punkten Folgendes feststellte: Mit den derzeitigen Kräften ist eine Verteidigung nicht möglich und auch kein Schutz der Zivilbevölkerung.
Anträge aus diesem Grund sind: - Einberufung von Kader für Neuaufstellungen; - Überstellung 2.000 ehemalig Kriegsgedienter oder ehemaliger Angehöriger der B-Gendarmerie in das Bundesheer; - Genehmigung zur Anwendung des Reichsleistungsgesetzes; - Veranlassung der schnellsten Lieferung von Waffen, Munition und Gerät; - Beginn der Anlage von Feldbefestigungen und Sperren in den meistbedrohten Abschnitten; - Zusammentritt einer interministeriellen Kommission für Zivilschutz; - Vereinbarung mit der Bundespolizeidirektion Wien und der Sicherheitsdirektion NÖ für die Steuerung der Flüchtlingsströme; - Aufklärung der Zivilbevölkerung über die Notwendigkeiten der vorbereitenden Maßnahmen der militärischen Landesverteidigung.
Seine Wünsche fanden jedenfalls keinen Anklang und versandeten, wie vieles andere auch.
Am 21. November sprengten die Ungarn die mittlerweile zum Symbol der Freiheit gewordene Brücke von Andau über den Einserkanal, wodurch der Weg in den Westen deutlich schwieriger wurde.
Während am 23. November eine weitere Reduzierung des Sicherungseinsatzes angeordnet wurde und die Kommanden der 1. Jägerbrigade von Wr. Neustadt nach Eisenstadt, der 2. Jägerbrigade von Bruck a.d. Leitha nach Wien und die 5. Gebirgsbrigade von Fürstenfeld nach Graz zurückverlegten, ereignete sich bei Rechnitz der schwerste Zwischenfall des gesamten Einsatzes. Drei russische Soldaten verfolgten Flüchtlinge bis auf österreichischen Boden, bedrohten eine österreichische Zollwachpatrouille, die einschreiten wollte, und gaben Schüsse ab. Die Russen versuchten, ein junges Mädchen zu berauben und zu vergewaltigen, als die Soldaten von einer zufällig vorbeikommenden Gendarmeriepatrouille gestellt und angerufen wurden. Während ein Soldat verhaftet werden konnte, flüchteten die beiden anderen Richtung Grenze. Trotz wiederholter "Halt"-Rufe reagierten die Soldaten nicht. Mehrere Schüsse fielen und einer der Flüchtigen stürzte, von einem Bauchschuss getroffen, zu Boden. Er verstarb noch während des Transportes in das Krankenhaus von Oberwart; der andere entkam. Die Sicherheitsdirektion alarmierte daraufhin das Bundesheer, und das Infanteriebataillon 2 erhielt den Auftrag, einen verstärkten Infanteriezug unter Kommando des Hauptmanns Dr. Truxa nach Rechnitz zu verlegen, um die nervöse Bevölkerung zu beruhigen und vor nun möglich scheinenden Übergriffen zu schützen. Am 26. November wurde der Leichnam des verstorbenen Sowjetsoldaten in Anwesenheit des sowjetischen Verteidigungsattachés, Oberst Makowskij, mit militärischen Ehren an die Sowjets in Ungarn übergeben. Der gefangene russische Soldat wurde erst am 1. Dezember, nach Intervention der sowjetischen Botschaft in Wien, zurückgestellt.(FN40) Ab 24. November reduzierte das BMLV die im Einsatz befindlichen Kräfte erneut. Die stehenden Spähtrupps wurden aus den Grenzortschaften abgezogen und anstelle dessen Meldeköpfe eingerichtet. Die Bereitschaften wurden reduziert und weitere Kräfte in ihre Heimatgarnisonen zurückverlegt. Motorisierte Spähtrupps befuhren nunmehr den Grenzraum, wobei die Fahrten gleichzeitig der Ausbildung der Kraftfahrer dienten. Mit 25. November beendete man die Unterstellung des Infanteriebataillons 2 unter die Gruppe II. Die taktischen Grenzen wurden mit 30. November aufgehoben.
Am 29. November verlegte die 2. Kompanie des Feldjägerbataillons 5 aus ihrem Verfügungsraum Deutsch-Altenburg zurück nach Wien. Noch am 7. Dezember löste das Feldjägerbataillon 13 das bislang in Bruck a. d. Leitha stationierte Feldjägerbataillon 29 ab. Der Stützpunkt Oberpullendorf wurde aufgelöst und die 2. Kompanie des Feldjägerbataillons 1 nach Wr. Neustadt zurückverlegt. Mit gleichem Datum hob das Ressort alle Beschränkungen hinsichtlich des Garnisonsverbotes auf.
In der "Wiener Zeitung" ließ das BMLV amtlich verlautbaren, dass die ungarische Gesandtschaft in Wien das offizielle Ende der Kampfhandlungen in Ungarn mitgeteilt habe. Mit Wirkung vom 7. Dezember 00:00 Uhr wurde daher entsprechend den völkerrechtlichen Bestimmungen das Internierungslager aufgelassen. Alle Internierten wurden in Anwesenheit eines Repräsentanten des IKRK darüber befragt, ob sie nach Ungarn zurückkehren oder in Österreich um politisches Asyl ansuchen wollten. Letztlich blieben von rund 1.200 Insassen des Lagers 1.100 in Österreich. Nur 103 Rückkehrwillige reisten nach Ungarn aus.(FN41) Auch das Internierungslager Hörsching, in dem ein sowjetischer Soldat untergebracht war, wurde geschlossen.
Rasch ging der Einsatz seinem vorläufigen Ende entgegen: Am 10. Dezember ordnete das BMLV die Einstellung der verstärkten Patrouillentätigkeit mit Wirkung vom 15. Dezember, 17:00 Uhr, und die Aufhebung der taktischen Abschnittsgrenzen mit 22. Dezember, 00:00 Uhr an. Gleichzeitig hatten aber die Grenzgarnisonen Feldbach, Oberwart, Wr. Neustadt, Bruck a.d. Leitha und Götzendorf sich bereitzuhalten, um auf ein rasches Aviso hin den Patrouillendienst an der Grenze wieder aufnehmen zu können.
Als letzter Verband kehrte am 24. Dezember das Feldjägerbataillon 13 in die Heimatgarnison zurück. Damit endete vorerst dieser erste Einsatz des Bundesheeres.
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Weblinks
- Norbert Sinn: Volksaufstand in Ungarn 1956 - der erste Einsatz des jungen Bundesheeres, www.bundesheer.at, Beitrag des ehemaligen Kommandanten der Theresianischen Militärakademie Generalmajor Norbert Sinn.
Einzelnachweise
- ↑ Christoph Hatschek: Die Geschichte der B-Gendarmerie von 1952 bis 1955, Webseite www.bundesheer.at, abgerufen am 17. April 2015
- ↑ 2,0 2,1 2,2 2,3 2,4 Norbert Sinn: Volksaufstand in Ungarn 1956 - der erste Einsatz des jungen Bundesheeres, Webseite www.bundesheer.at, abgerufen am 17. April 2015