Waisenhaus Mödling

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Das Waisenhaus in Mödling war ein Waisenhaus in Mödling, das seinen Ursprung in einer Stiftung des Anatomen Josef Hyrtl findet und in verschiedenen Formen bis 1978 an dem gleichen Standort bestand.

Geschichte

Vorgeschichte

Begonnen hat es im Jahre 1885 mit Josef Schöffel und Prof. Dr. Josef Hyrtl. Schöffel - ein äußerst kapriziöser, eigenwilliger Bürgermeister - hat sich sehr für Mödling eingesetzt. 1885 war er allerdings seit über 2 Jahren nur mehr einfaches Gemeinderatsmitglied im Rathaus. Schöffel hat 1891 die einzige Ehrung vom Land Niederösterreich bekommen, die NÖ je in dieser Form gemacht hat: eine Medaille von Jauner mit dem Bildnis des Waisenhauses.

Josef Hyrtl war einer der berühmtesten Anatomen seiner Zeit, manche meinen im gesamten deutschsprachigen Raum, manche sogar weltweit. Wenn der Kaiser eine Frage zum Thema Anatomie hatte, fragte er Dr. Hyrtl. Dieser war dadurch äußerst angesehen und enorm reich. Er investierte allein in das Waisenhaus insgesamt 600.000,-- Gulden (das sind in etwa 5,5 Millionen heutige EUR). Nachdem Hyrtl keine Kinder hatte, überlegte er sich im späteren Alter, was er sinnvoll mit seinem Geld machen könnte. Da richtete er zuerst einmal auf der Wiener Universität – wo er unterrichtete – eine Stiftung von 40.000,-- Gulden österreichische Goldrente ein mit der Widmung, dass von den Zinsen vier Studenten ein Stipendium erhalten sollten. Als er diese ein Jahr später aufsuchen wollte musste er feststellen, dass die Studenten nie Geld gesehen haben, weil die Erträge gesetzlich erst nach vier Jahren ausbezahlt werden müssen und die Universität dieses Geld zum Stopfen von Finanzlöchern verwendet hatte. Hyrtl war darüber sehr verärgert (er nannte es einen „Seeräuberstaat“) und avisierte ein ähnliches Projekt in Deutschland, in Heidelberg. Da kam nun sein Freund Josef Schöffel auf ihn zu und meinte, er solle doch in Mödling die Errichtung eines Waisenhauses finanzieren. Nun kann man nachvollziehen, dass Hyrtl mittlerweile ein gebranntes Kind war und Angst hatte, dass das Geld wieder irgendwo in unsichtbaren Kanälen versickert. Schöffel versprach ihm, sich darum zu kümmern. Schöffel ging daraufhin zu seinem Freund, dem Statthalter von Niederösterreich, Baron Possinger, der meinte, er solle doch einen Verein gründen. Denn Erträge von Vereinen müssen, im Gegensatz zu Stiftungen, zweckgebunden verwendet werden. Er werde dann das Restliche regeln. Hyrtl stimmte diesem Projekt schließlich zu. 1888 wurde dieser Verein dann doch in eine Stiftung umgewandelt. Zum Glück erwirkte dann im Jahre 1901 Joseph Schöffel mit Unterstützung des Ministerpräsidenten Körber ein Gesetz, das die Verwendung von Überschüssen der kumulativen Waisenkassen für die Erziehung und Ernährung armer Waisen beschloss. Geregelt wurde im Waisenkassengesetz die Veranlagung und Verwaltung der Vermögen von minderjährigen Waisen durch k.k. Gerichte bzw. Finanzämter bis zur Volljährigkeit. Die Überschüsse in den Waisenkassen waren gar nicht erwartet worden und deren Schicksal blieb deshalb ungeregelt. Als quasi herrenloses Vermögen erregten sie die Begierde verschiedenster Stellen, das k.k. Justizministerium wollte beispielsweise die Überschüsse zum Bau von Gerichten in Galizien verwenden. Schöffel erreichte nun, dass diese Gelder zur Finanzierung von Waisenhausplätzen verwendet wurden, darunter 300 Plätze im Hyrtl’schen Waisenhaus in Mödling.

Entstehung

Angedacht war ein Haus für 44 Zöglinge und, nachdem Hyrtl sehr religiös war, mit einer kleinen Hauskapelle. Da meinte Schöffel, er solle doch gleich eine richtige Kirche hinstellen. Nun, eine „richtige“ Kirche wie zum Beispiel die Othmarskirche wäre sich zwar finanziell ausgegangen, nur hätte es dann kein Waisenhaus gegeben. So hat sich Hyrtl für die Variante Waisenhaus mit einer kleineren Kirche entschieden. Diese beiden Bauwerke entstanden 1886 auf den Gründen des ehemaligen Mödlinger Friedhofs, des Martinsfriedhofs. Die Gemeinde Mödling unter Bürgermeister Specht ließ daneben noch eine Volksschule im gleichen, englischen Stil errichten. Ein Jahr später entstanden dann gegenüber zwei Häuser, in einem befindet sich heute die Bank Austria und im anderen das Café Grande. Dies war der Beginn der Stefaniegasse (Kronprinzessin Stefanie war bei der Einweihung der Kirche und des Waisenhauses 1886 anwesend). Das Projekt Waisenhaus wurde so gut angenommen, dass es sehr schnell ausgebaut wurde und 15 Jahre später eine große Anlage entstanden war. Begonnen von der Duursmagasse (Straßengabelung Wienerstraße - Neudorferstraße) bis knapp vor die Südbahn. Und im Süden weit über den Mödlingbach hinaus. Die heutigen Gründe der EVN, des Gymnasiums Bachgasse sowie der Fußballplatz hinter dem Restaurant Bachstub‘n gehörten alle zum Waisenhaus.

1906 bietet der Komplex Platz für 700 Waisenkinder sowie Sportwiesen, große Sportplätze, Exerzierplatz, Rodel-, Eis- und Kegelbahnen, Sommer-Turngarten, Turnsaal, Schwimmbad (Abbildung 1), geräumige Schlaf-, Speise-, Spiel- und Aufenthaltsräume, Anstaltskrankenzimmer mit geschulten geistlichen Krankenschwestern sowie Stall- und Landwirtschaft, Gärtnerei sowie Schülerwerkstätten mit Schneiderei, Tischlerei, Töpferei (Abbildung 2), Schlosserei, Wäscherei und Schuhmacherei, Korbflechterei, Bürstenbinderei, Kerbschnitter, Buchbinder, Papparbeiter und Drechsler.

Kaiser Franz Josef, der oberste Protektor, Gönner und Förderer des Waisenhauses, war hier zweimal auf Besuch: 1894 und 1904 bei der 1000-Jahrfeier von Mödling (Abbildung 3). Wenn der Kaiser kam, mussten die Kinder etwas vorsingen und vorspielen, aber auch vorexerzieren und vorschießen. Der Kaiser war von den Schießkünsten so begeistert, dass er nach seinem Besuch 1894 gleich einige hundert Gewehre ins Waisenhaus liefern ließ (es gab eigene Kindergewehre der Oberösterreichischen Gewehrfabrik Werndl, Abbildung 4). In einem Brief eines ehemaligen Zöglings liest man, wer aller bei dem Kaiserbesuch 1904 anwesend war:

„Knapp vor der ersten Kompanie hast Du Aufseher Karl Seipel, weiter vorn als Bataillonsführung Verwalter Josef Mayer, links daneben Schöffels Schwiegersohn Major Freiherr Edler von Velten-Schöffel, etwas links davon mit dem Federbusch Kaiser Franz Josef I. und Vater Josef Schöffel. Und wieder links, die Gruppe, die zwei nebeneinanderstehenden Herrn mit den Federbüschen die Adjutanten von Kaiser F.J. I. einer davon General der Infanterie Graf Paar, der andere General der Infanterie Freiherr von Bolfras, Inhaber des Infanterie Regiments Freiherr von Bolfras Nr. 48, nebstbei bemerkt, bei diesem Infanterie-Regiment war ich. Dann sieht man noch einen Herrn mit einem Federbusch, das ist Erzherzog Salvator. Die anderen Herren sind Mitglieder der damaligen Regierung und der Bezirkshauptmann. Noch etwas, beim Kücheneck, bei der Musik mit dem Tschacko, das ist Musikprofessor Fr. Mayer.“

Brief eines Zöglings

Der bedeutendste Direktor des Waisenhauses war Regierungsrat Dr. Heinrich Dressler. Dressler, 1879 geboren, hat mit 32 Jahren, also im Jahre 1911, die Leitung der Anstalt übernommen. Dieses Amt übte Dressler ein viertel Jahrhundert lang bis 1936 aus. Es gab vor ihm und nach ihm einige Direktoren, diese aber spielten alle nur sehr kleine Rollen. Unter Dressler war die Blütezeit des Waisenhauses, bei ihm gab es die meisten Kinder (712). Dressler war auch zugleich Schuldirektor und so musste er auch Jahresberichte verfassen, die er sehr ausführlich geschrieben hat und wodurch seine Schulchroniken wahre Geschichtsbücher geworden sind. Zwei Punkte sind es hier besonders wert, hervorgehoben zu werden:

Erstens der Besuch von Erzherzog Salvator. Zweitens wurden in den Schuljahren 1915/1916 und 1916/17 die Lehrer des Waisenhauses für den Kriegsdienst eingezogen und die Klassen zusammengelegt. Am Beginn des nächsten Schuljahres hat dann Dressler Gedenkveranstaltungen zu Ehren der gefallenen Lehrer abgehalten. Man muss sich vorstellen, dass diese Lehrer zwischen 20 und 30 Jahre jung waren! Es sind aber nicht nur Lehrer vom Waisenhaus eingezogen worden und gefallen, sondern auch Zöglinge. Da gibt es zwei Karten von der Front in Frankreich 1915 an das Waisenhaus an einen gewissen Herrn Holzer. Holzer war Schießausbildner der Kinder. Die jungen Männer tragen deutsche Uniformen, was insofern unbegreiflich ist, nachdem sie Franz Josef sehr verehrt haben. Im Waisenhaus gab es aber nicht nur Knaben, sondern auch Mädchen. Und so gibt es zwei Urkunden, eine davon aus dem Jahre 1904, wo eine Marie Bauer dem Marianischen Orden in der Waisenhauskirche beigetreten ist. Diese beiden Mädchen waren später geistliche Schwestern im Waisenhaus zur Betreuung der Kinder. Es war überhaupt so, dass sich das meiste Personal aus ehemaligen Zöglingen rekrutiert hat.

Josef Schöffel ist am 7. Februar 1910 gestorben. Er hat sich in den letzten Jahren völlig frustriert von der Politik zurückgezogen und war die letzten fünf Jahre täglich im Waisenhaus, um „seine“ Kinder zu besuchen. Er ließ sich – ebenso wie auch Hyrtl - als „Vater“ ansprechen. Das hat ihm so gefallen, dass er beschlossen hat, seinen Lebensabend im Waisenhaus zu verbringen. Leider war ihm das nicht mehr vergönnt – er starb kurz darauf. Schöffel wurde am 9. Februar in der Waisenhauskirche aufgebahrt, in der Kirche, zu deren Bau er Hyrtl 25 Jahre zuvor überredet hat . Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass zwar an diesem Tag ganz Mödling auf den Beinen war, es aber kaum einen Niederschlag in der Presse gegeben hat. Die wirkliche Wertschöpfung Schöffels hat erst wieder viel später, nämlich im Jahre 1970, stattgefunden, wo nach elf Jahren langer, zäher Vorarbeit der ehemaligen Zöglinge eine Briefmarke zu Ehre Schöffels herausgegeben wurde.

Direktor Dressler war ein sehr kinderliebender Mann. So gab es unter ihm fast wöchentlich Tagesausflüge, in der Regel auf den nahegelegenen Anninger. Dabei zogen in der Früh einige hundert Kinder mit Musikinstrumenten lautstark musizierend durch Mödling Richtung Goldene Stiege und am Abend wieder zurück. Diese musizierenden Waisenkinder waren über Jahrzehnte fixer Bestandteil des Mödlinger Stadtbildes. Zu Schulschluss gab es dann noch mehrere Tagestouren, z. B. nach Zwettl, Mariazell oder in die Wachau. Da wurden die Kinder vom jeweiligen Bürgermeister, manchmal auch im Beisein des Bundespräsidenten, empfangen. Die Kinder spielten dann ein Konzert und bekamen als Belohnung dafür Essen, ein Eis oder Torte. Dressler sorgte darüber hinaus dafür, dass gleich fünf verschiedene Zeitungen darüber berichteten.

50-Jahrfeier des Waisenhauses 1936

Im Sommer 1936 fand die 50-Jahrfeier des Waisenhauses statt. Bei der Feier waren 1.000 Festgäste anwesend. Allen voran: Bundespräsident Wilhelm Miklas, Kardinal Fürsterzbischof Dr. Theodor Innitzer Landesrat Haller, für den Bundeskanzler Unterrichtsminister Min. Rat. Ing. Neudek, Ministerialrat Dr. Lavotzky, für den Handelsminister Oberst Walter Adam, Generalmajor Odelga, Hofrat Vititz, für Staatssekretär Zernato war Bezirkshauptmann Dr. Pamperl hier. Staatsrat Leopold Kunschak und Direktor Regierungsrat Heinrich Dressler hielten eine Festansprache. Kardinal Innitzer suchte mit dem Bundespräsidenten und den weiteren hohen Festgästen vorerst die Waisenhauskirche auf, um sich auf die Messe einzustimmen, hielt jedoch die Pontifikalmesse im Freien (Feldmesse) ab. An diesem Tag fanden 40 Firmungen der Waisenhauskinder statt. Innitzer war überhaupt neben noch drei anderen Kardinälen drei Mal im Waisenhaus, um Waisenhauskinder zu firmen. Maßgebend für diese Veranstaltung, aber auch für das gesamte Waisenhaus, waren Glangl und Dressler. Beide waren später lange Zeit Mitglieder des Vereins der Ehemaligen Zöglinge des Waisenhauses und ihnen verdanken wir, dass das Waisenhaus heute immer noch für Kinder und Jugendliche genützt wird.

Spiegelgrund, Kindereuthanasie, Waisenhaus

Der Spiegelgrund war im 2. Weltkrieg in den Jahren 1940 bis 45 im psychiatrischen Krankenhaus am Steinhof eine eigene kinderpsychiatrische Abteilung. In dieser Abteilung gab es verschieden schwere Erkrankungen der Kinder. Die schwereren waren z. B. Epilepsie, Downsyndrom und Wasserkopf (Kopfverformungen), die mittleren Behinderungen Hör-, Seh-, Sprach- und Körperbehinderungen. Die leichteren Fälle waren überhaupt nur verhaltensauffällige Kinder (im Volksmund: schlimme Kinder). Offiziell war der Spiegelgrund eine Heilanstalt, inoffiziell jedoch eine von Adolf Hitler angeordnete Tötungsmaschinerie für Menschen, die ein „Unwertes Leben“ führen, so stand es damals im Deutschen Reichsgesetz. Diese Kinder wurden sehr bestialischen, sadistischen Qualen ausgesetzt. Da gab es zum Beispiel Tabletten und Giftinjektionen, nach de nen die Kinder tagelang schwerste körperliche Krämpfe und Durchfall hatten. Oder es gab eine „Eiswasserbehandlung“. Man zog ein Kind nackt aus und zwei Männer drückten es so lange in eine mit eiskaltem Wasser gefüllte Badewanne, bis keine Luftblasen mehr aufstiegen. Man war der Meinung, dass man so den Willen des Kindes brechen könnte. Eine Schwester hat dem Kind das Essen auf den Boden geschüttet und gesagt: „schleck es auf“. Alle Mädchen wurden sterilisiert. Letztendlich wurden die Kinder mit sehr starken Schlafmitteln ermordet. Euthanasie - εὐϑανασία - kommt aus dem Griechischen und bedeutet „schöner Tod“. Ein Affront diesen Kindern gegenüber. Offizielle Todesursache war Lungenentzündung, in Wahrheit wurden die Testate jedoch meist gefälscht und gleich wieder vernichtet. Man hat die Gehirnpräparate und Kinder- köpfe angeblich zu Forschungszwecken im Keller des Pavillons gelagert. So wurden auf diese Weise über 800 Kinder getötet. Heute gibt es auf den Steinhofgründen, dem heutigen Otto-Wagner-Spital, eine Gedenkstätte an diese Kinder. Gleich nach dem Krieg wurden die Ärzte und Schwestern zur Verantwortung gezogen. So bekam Dr. Illing die Todesstrafe (damals gab es sie noch in Österreich), Frau Dr. Marianne Türk 10 Jahre, Schwester Anna Katschenka 8 Jahre und Dr. Heinrich Gross 2 Jahre schweren Kerker. All diese detaillierten Unterlagen sind im Waisenhaus aufgehoben. Daneben eine Liste von rund 100 Kindern, die vom Spiegelgrund in das Waisenhaus überstellt wurden und dadurch dem Tode entronnen sind. Das Waisenhaus war in 2. Weltkrieg keine normale Schule, kein normales Heim. Es war ein Erziehungsheim der Gemeinde Wien für "schwererziehbare Kinder" (Mödling war in dieser Zeit der 24. Wiener Gemeindebezirk). Weiters gibt es sehr detaillierte Aufzeichnungen vom Ende des 2. Weltkrieges. Und zwar haben am 30. März 1945, als die russische Befreiungsarmee bereits in Wiener Neustadt, also knapp vor Mödling war, die Nazis angeordnet, das Waisenhaus zu evakuieren. Angedacht war, dass die Gemeinde Wien Städtische Busse nach Mödling kommen lässt, um die Kinder entweder auf den Spiegelgrund oder in eine Schule in Prackenbach bei Turnau in Niederbayern zu bringen. Nachdem die Busse nicht gleich kamen, hat man zuerst die Lebensmittel mit Pferdefuhrwerken auf den Spiegelgrund gebracht und ein Teil der Kinder musste zu Fuß durch die Wälder zum Spiegelgrund gehen. Spät abends kam dann doch noch zwei Busse, der die Kinder über den Gürtel nach Steinhof brachte.

Nun muss man sich vorstellen, dass die Kinder, die auf den Spiegelgrund geführt werden sollten, ja zum Teil von dort gekommen sind. Sie haben genau gewusst, dass dort der Tod auf sie wartet. So sind einige Kinder bei diesem Transport „getürmt“ (da gibt es ganz konkrete Zahlen dazu). Weiters wird berichtet, dass die Russen in diesen Tagen Wien stark bombardiert haben und halb Wien gebrannt hat. Viele Menschen sind vor den Russen geflüchtet und da waren jetzt unsere „getürmten“ Waisenhauskinder dabei. Nichts als ihr Gewand am Leibe, nichts zu essen, nichts zu trinken, nichts zum Schlafen, keine Vision, zum Teil waren sie schwer krank. Eine nicht mehr zu überbietende Tragödie. Und den Kindern in Prackenbach ging es auch nicht viel besser. Hier hatten sie zum Teil starke Mundfäule und schwersten Durchfall. Sie haben es oft nicht bis auf das Klo geschafft. Es gab kein warmes Wasser. So musste man mit kaltem Wasser die Kleider reinigen und man kann sich ausrechnen, wie lange eine Hose im April zum Trocknen braucht. Mitte Oktober 1945, als die Alliierten sich in Wien etabliert haben, wurde der Spiegelgrund geschlossen und die Kinder von Prackenbach in das Waisenhaus rücküberstellt.

Von zwei der Kinder wissen wir viele Details: Rudolf Karger und Friedrich Zawrel. Karger hat vom Unterrichtsministerium den Auftrag bekommen, seine Erlebnisse von Spiegelgrund und Waisenhaus in den Schulen vorzutragen. In seinem Brief an die Waisenhausschule 2005 steht Folgendes:

„Mit 11 Jahren - 1941 - kam ich am Spiegelgrund. Eingestuft durch das Reichsjugendamt als u n w e r t e s L e b e n des damaligen Reichsgesetzes. Am Spiegelgrund, wo es nur Leid, Schmerz und Tötung gab an Kindern, an uns jugendlichen beiderlei Geschlechtes. A. Hitler fand gute willige Helfer für seine mörderischen Ideen. Alles was gegen seine Vorstellung war, u. rassistisch nicht einwandfrei sollte vernichtet werden. Am Spiegelgrund waren das Pflegepersonal sowie auch die Ärzte tätig, zu morden u. Leid zu bringen an uns Kinder u. Jugendlichen, die auch präzise Hitlers Anordnung befolgten.“

Der bekannteste Zögling, der das überlebt hat, war Friedrich Zawrel. Er wird 1942 vom Spiegelgrund in das Waisenhaus überstellt, muss aber ein Jahr später wieder auf den Spiegelgrund zurück. Zawrel, ein Kleinkrimineller, ist immer wieder aus dem Spital ausgebrochen. 1975 wird er Primarius Gross am Steinhof wegen eines Gutachtens vorgeführt. Auf die Frage, ob er schon einmal psychiatriert worden sei, antwortet Zawrel: „Herr Doktor, für einen Akademiker haben sie aber ein sehr schlechtes Gedächtnis. […] Herr Doktor, können Sie überhaupt noch gut schlafen? Haben sie schon vergessen die vielen toten Kinder vom Pavil- lon 15, haben sie schon die gemarterten und misshandelten Kinder vom Pavillon 17 vergessen?“ Gross fragt Zawrel, ob er noch andere von damals kenne und ob er jemandem davon erzählt habe. Nachdem Zawrel die Fragen verneint – er habe seiner Mutter wegen der jüngeren Geschwister versprochen, nie wieder über den Spiegelgrund zu sprechen – meinte Gross, das ändere die Lage und er verspricht Zawrel in kameradschaftlicher Weise jede gutachterliche Hilfe. Schließlich kommt es Ende 1997 doch noch zu einer Mordanklage gegen Dr. Gross. Er kann sich jedoch wegen angeblicher Demenz dem Prozess und einer Verurteilung entziehen. Zawrel wird 2008 mit dem Goldenen Verdienstzeichen der Stadt Wien ausgezeichnet. 2013 bekommt er das Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich verliehen. Nach seinem Ableben wird er auf dem Zentralfriedhof in einem Ehrengrab bestattet. In weiterer Folge wird ein Gymnasium in Wien nach ihm benannt.

Der Waisenhausfriedhof auf dem Areal des Eichkogelfriedhofs

Ein sehr wichtiger Teil der Waisenhausgeschichte ist mit dem Waisenhausfriedhof verbunden. Am 1. Oktober 1886 wurde das Waisenhaus eröffnet und bereits nach nur gut drei Jahren, zu Beginn 1890, starb der erste Waisenhauszögling mit 10 Jahren, den man gleich neben der Waisenhauskirche beerdigt hat. Bis 1904, also 14 Jahre hindurch, sind 35 Zöglinge gestorben, die man alle neben der Kirche begraben hat. Dies wurde ein unhaltbarer Zustand. Schöffel - Hyrtl war zu diesem Zeitpunkt bereits 10 Jahre tot - kaufte daraufhin auf dem Eichkogelfriedhof ein Areal von über 800 m². So knieten im Laufe der Geschichte vor dem Jauneraltar in der Waisenhauskirche sieben verschiedene Kardinäle und Bischöfe, Josef Schöffel war hier aufgebahrt, und 100 Kindersärge standen hier, um sich von ihnen für immer zu verabschieden. Weitere bekannte Waisenhaus-Zöglinge. Der berühmteste Zögling des Waisenhauses war der Lyriker Josef Weinheber. Er war von 1901 bis 1909 hier. Weinheber hat über diese Zeit ein Buch geschrieben: „Das Waisenhaus“. Und obwohl Hyrtl und Schöffel das Waisenhaus mit viel Liebe beseelt haben, ist es ein sehr schwermütiges Buch, wo von seiner Schwester Amalie, die mit 14 Jahren starb und seinem besten Schulfreund Johann Seifert (in Weinhebers Buch kommt er als Treffeis vor = Seifert von hinten nach vorne gelesen) die Rede ist. Berühmtheit erlangte auch Prof. Rudolf Knarr. Auch er war Waisenhauszögling, hat 20 Jahre lang im Waisenhaus Musik unterrichtet und im Jahre 1936 die Beethoven-Musikschule gegründet, die heute unglaubliche 1.300 Schüler ausbildet. Prof. Knarr wurde auf dem Waisenhausfriedhof beerdigt. Weitere bekannte Zöglinge waren Rechnungshofpräsident Leopold Petznek sowie der Wiener Bankdirektor Paast.

Zusammenfassend kann man feststellen, dass das Waisenhaus ein einzigartiges Projekt war. Die Kinder hatte für jede Fertigkeit eine eigene Werkstätte, wo sie spielerisch die gesamte Schulzeit hindurch alles lernen konnten und am Ende haben viele gewusst, welchen Beruf sie ergreifen möchten. Das Waisenhaus war überdies ein Vorzeigeobjekt:

Kaiser Franz Josef war zweimal anwesend, weiters Kronprinzessin Stefanie, Erzherzog Salvator, drei Bundespräsidenten – wobei Bundespräsident Hainisch allein drei Mal hier war -, zwei Bundeskanzler, die höchsten Herren des österreichischen Militärs, viele Staatsminister, sieben verschiedene Kardinäle und Bischöfe und noch viele andere bekannte Persönlichkeiten.

Und auch viele Zöglinge denken mit Wehmut an ihre Waisenhauszeit zurück. Deswegen haben sie nach Schöffels Tod einen Verein gegründet, der das Erbe Hyrtls und Schöffels für immer erhalten sollte. Leider ist ihnen das nicht sehr lange geglückt. Denn mit Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde die Waisenhausstiftung aufgelöst und das Waisenhaus Wien einverleibt. Und bei der Rückstellung 1957 hat zwar das Land Niederösterreich das Waisenhaus übernommen, da es aber nur ein Erziehungsheim war und keine Erträge brachte, hat man sehr schnell Gründe verkauft. 1960 an die EVN, 1963 hat das Rote Kreuz das Urgebäude Hyrtlplatz 1 und das Schwimmbad aufgekauft sowie 1979 das Gymnasium in der Bachgasse, das übrigens zuerst ein Mädchengymnasium war.

Hier liegen exakt 100 Zöglinge des Waisenhauses. Es gibt noch viele weitere tote Kinder, die nicht hier begraben wurden. Haupttodesursache waren Lungentuberkulose, Gehirnhautentzündung, aber auch Epidemien wie Scharlach und Diphterie. Einen einzigen tödlichen Unfall gab es: in der Dampfwäscherei fiel ein 13-jähriges Mädchen in einen kochenden Kessel.

Worüber sich Hyrtl noch freuen würde ist, dass in den Gebäuden rund um die Wienerstraße sieben verschiedene große Institutionen für Kinder und Jugendliche untergebracht sind:

Ein Kindergarten, eine Volksschule, eine Höhere Lehranstalt für Mode- und Bekleidungstechnik sowie Produktmanagement und Präsentation, eine Schule für Sonderpädagogik, das Gymnasium in der Bachgasse, eine Behindertenwerkstätte der Lebenshilfe und ein Psycho-Soziales Gesundheitszentrum. Die Unterlagen stammen alle aus dem Waisenhausarchiv, Wienerstraße 18 in Mödling sowie aus dem Stadtarchiv Mödling „Marienheim“, Hauptstraße 47, Kartons 366, 367, 368, 374